Naturhistorisches Museum Wien:
Dr. Fröhlich saß auf den Stufen vor dem Maria-Theresien-Denkmal und grübelte über ihr neues Projekt. Ihr zitronengelbes Kleid ließ sie noch zierlicher wirken, als sie ohnehin schon war. Den Ort hatte sie bewusst gewählt, um etwas Abstand zu ihrem vertrauten Arbeitsplatz im Museum zu bekommen, und es schien zu klappen. Der Maria-Theresien-Platz wurde als Parkanlage genutzt und lag wie ein grasgrüner See zwischen den beiden Museen. Mit etwas Fantasie und passendem Sonnenlicht sahen die mächtigen Ringstraßengebäude fast wie Wasserspiegelungen aus. Rein äußerlich glichen das Kunsthistorische und das Naturhistorische Museum einander so sehr, dass selbst Einheimische sie immer wieder verwechselten.
Hör auf zu träumen! Die aus Bayern stammende, aber in Wien lebende Paläontologin hatte an diesem Nachmittag ein echtes Problem damit, bei allem Abstand fokussiert zu bleiben.
Weit und breit gab es keinen See. Stattdessen existierten nur getrimmte Grasflächen und in Zylinder- oder Kugelform geschnittene Buchsbäume. Dazwischen schlängelten sich, in perfekter Symmetrie, mit Touristen gefüllte Spazierwege. Nur in verschiedenen Grüntönen gestrichener Beton hätte noch natürlicher wirken können.
Seit über zwei Stunden saß Uschi Fröhlich nun schon hier und kritzelte auf ihrem Notizblock herum. Sie versuchte, das Unmögliche zu skizzieren und in wenige Worte zu fassen. Letzteres war besonders schwierig, denn ein klingender Titel war Grundbedingung für eine gute Ausstellung. Ein Kracher musste her, der als Selbstläufer durch alle Medien geistern würde, um Besucherscharen anzulocken. Anders war ein Projekt dieser Größenordnung nicht denkbar.
Von rechts schob sich ein Schatten über das Papier. „Verzweifelst du am neuen Auftrag, oder schreibst du schon deine Kündigung?“ Grauer Arbeitsmantel, Schnurrbart, zu offensichtlich nicht gefärbtes Haar und ein gepflegter Hopfenbauch - Robert, der Haustechniker des Naturhistorischen Museums, war eine monumentale Erscheinung.
Uschi blickte hoch. „Ich versuch’s noch mit Verzweifeln.“ Ihr Lächeln war nicht so unbeschwert wie sonst. Der leichte Nachmittagswind spielte mit den schulterlangen, dunklen Haaren, die sie ausgerechnet heute nicht mit einem halben Dutzend Haarspangen fixiert hatte.
„Dann komme ich ja noch rechtzeitig, um Trost und Rat zu spenden.“ Er setzte sich zu ihr auf die Stufen des Denkmals. „Hat er es dir wenigstens schonend beigebracht?“ Robert meinte Willendorfer, den Museumsdirektor.
„Ist es schonend, wenn dir zwischen zwei Mozartkugeln erklärt wird, dass du ab sofort die Ausstellungsvorbereitung übernehmen musst, an der deine Kollegin nach fast zwei Jahren Vorlaufzeit gescheitert ist?“
„Ex-Kollegin“, murmelte Robert beiläufig. „Willendorfer hat wirklich nur zwei Mozartkugeln gebraucht, um dir das zu sagen? Macht er gerade eine Diät, von der wir nichts wissen?“
„Kann mir egal sein, weil ich nur noch für die Ausstellung zuständig bin. Alles andere darf liegenbleiben - dienstlich wie privat. Aber er hat mir sein vollstes Vertrauen zugesichert und gemeint, dass er sich keine Bessere für diese verantwortungsvolle Aufgabe wünschen könnte. Bla, bla... Kurz gesagt, ich soll mir möglichst bis gestern etwas einfallen lassen, wie die Ausstellung noch zu retten ist. Habe ich schon erwähnt, dass fast zwei Drittel des Budgets bereits für Leihverträge und Transportversicherungen verplant sind?“
„Wenn er glaubt, dass du zaubern kannst, warum hat er dich nicht schon vor zwei Jahren gefragt, ob du es machen willst?“
„Hat er, und ich habe damals abgelehnt. Blöderweise ist meine liebe Ex-Kollegin, die sich damals um den Job gerissen hat, jetzt ganz plötzlich schwanger geworden. Obwohl sie mir bei jeder noch so unpassenden Gelegenheit versichert hat, dass ihr drei Kinder von drei verschiedenen Männern reichen.“
„Alles im Leben kommt zu einem zurück.“
„Alles, und noch viel schlimmer“, stellte Uschi fest. „Damals hätte ich wenigstens freie Hand bei der Planung gehabt, aber jetzt darf ich mich durch den organisatorischen Trümmerhaufen wühlen, den meine Vorgängerin hinterlassen hat. Ich meine, wie kann man so unstrukturiert an eine Aufgabe herangehen? Sie hat Leihverträge für Ausstellungsstücke abgeschlossen, ohne sich zu überlegen, wo sie diese hinstellen will. Für einige der Saurier haben wir nicht einmal genug Platz im Schausaal. Würdest du sündhaft teure Sachen bestellen, bevor klar ist, was du damit machen wirst?“
„Niemals, aber ich bin auch keine Frau.“
„Danke, das ist genau die Art von Trost, die ich jetzt brauche.“
„Okay, noch ein Versuch: Du wirst die großartigste Ausstellung organisieren, die unser Haus je gesehen hat. Mit deinen Dinosauriern wirst du die Besuchermassen begeistern! Besser?“
„Ich will nicht kleinlich sein, aber die Bezeichnung Dinosaurier greift zu kurz, weil wir auch einen kleinen Flugsaurier zeigen wollen. Wissenschaftlich ist da ein großer Unterschied, weil...“
„Geh bitte!“, unterbrach Robert. „Warum muss es in der Wissenschaft immer so kompliziert sein? Zeigst du eben die tollsten Saurierskelette der Welt! Hauptsache, es kommt ein riesiger T-Rex auf das Werbeplakat, weil den kennt jeder - sogar ein einfacher Haustechniker wie ich.“
„Aber wissenschaftlich betrachtet gibt es viel bedeutendere...“
„Uschi!“, seufzte er. „Willst du einen Fachkongress für ein paar hundert Paläontologen organisieren, oder eine Ausstellung, die alle Besucherrekorde sprengt? Solange ihr Wissenschafter nicht herausfindet, dass T-Rex rosa Flauschfedern hatte, wird er auch weiterhin der coolste und beliebteste Saurier bei Jung und Alt bleiben. Und ganz im Vertrauen gesagt: Falls er wirklich rosa Federn hatte, behaltet es für euch!“ Als hätte er sich gerade selbst auf eine Idee gebracht, fragte er: „Du hast doch einen T-Rex?“
„Noch nicht, aber...“
„Vielleicht solltest du doch besser kündigen.“
„Ich bin natürlich auch an einem T-Rex dran.“ Sie tippte mit ihrem manikürten Fingernagel auf den Notizblock. „Aber so einfach ist das nicht. Weltweit gibt es nur ein paar Dutzend Skelette, wobei die meisten alles andere als vollständig sind. Ungefähr eine Handvoll ist so gut, dass sie für die Ausstellung infrage kommen. Aber davon sind zwei zu groß für unseren Schausaal und scheiden gleich wieder aus.“
„Das klingt doch gut. Du brauchst also nur drei Telefonate führen und die Angebote vergleichen, um den wichtigsten Punkt auf deiner Liste abhaken zu können. Wenn es in dem Tempo weitergeht, hast du die Ausstellung bis Ende der Woche komplett.“
„Wenn’s nur so einfach wäre. Ich muss erst einmal jemanden finden, der überhaupt bereit ist, seinen T-Rex zu verleihen, da reden wir noch gar nicht vom Geld. Jedes Museum mit einem solchen Skelett nutzt es als Zugpferd und Blickfang.“
„Genau, was ich immer sage. Jeder will einen T-Rex, also brauchst du auch einen!“
„Soll ich ihn klauen? Unsere Ausstellung ist für die Dauer von sechs Monaten geplant. Rechnet man den extrem aufwändigen Auf- und Abbau mit, haben wir die Saurierskelette fast ein Jahr hier. Dazu kommen noch zweimal die Transportzeit und natürlich der Auf- und Abbau in den Einrichtungen, die uns ihre Skelette leihen. Am Ende reden wir also von fast eineinhalb Jahren, in denen das jeweilige Stück seinem Museum fehlt. Das ist eine sehr lange Zeit, um eine leere Halle kaschieren zu müssen.“
„Klingt nicht so, als könntest du ihnen im Ausgleich etwas von den Prachtstücken anbieten, die bei uns ganz hinten im Keller verstauben.“
„Sicher nicht.“
„Was ist, wenn du dich von der Idee mit den Originalskeletten verabschiedest und stattdessen auf Abgüsse setzt? Den Unterschied merkt bei den Kunststoffen heute ohnehin keiner, und billiger ist es auch, weil du die Originale nicht transportieren musst. Allein bei den Versicherungskosten sparst du damit doch bestimmt ein Vermögen ein.“
„Ich weiß, aber es ist nicht dasselbe. Abgüsse wären natürlich eine Option, aber echte Skelette sind noch mal eine ganz andere Liga.“
„Aus wissenschaftlicher Sicht“, gähnte Robert.
„Vermutlich hast du recht. Aber das war nun mal die Idee hinter der Ausstellung: Originalskelette bedeutender Saurier.“
„War.“
„War?“
„War! Jetzt ist es deine Ausstellung, also kannst du entscheiden, was daraus wird. Wo du Originale bekommst, nimmst du sie natürlich, aber wo das nicht klappt, greifst du eben auf Repliken zurück.“
„Das würde schon vieles vereinfachen. Aber die Ausstellung wäre dann nicht mehr so exklusiv. Willendorfer hat gesagt, dass ihm dieses Projekt viel bedeutet. Er wird sich die Sache bestimmt nicht kleinreden lassen.“
Robert nickte, als wüsste er längst, was Uschi zu wissen glaubte. „Wer sagt denn was von Kleinreden? Mir schwebt das genaue Gegenteil vor: Das Geld, das wir bei den Originalskeletten einsparen, investieren wir in die Nachbauten der größten Saurierskelette, die je gefunden wurden. Es wird die beste und vollständigste Ausstellung überhaupt, bei der man erstmals alle Riesenskelette vereint an einem Ort bestaunen kann. Nur die allergrößten Saurier der Welt - hier in Wien!“
„Die größten? Vergiss es! Das macht die Sache platztechnisch noch schlimmer, als sie ohnehin schon ist. Nicht einmal, wenn alle Knochen einzeln verpackt und ihre Transportkisten perfekt gestapelt sind, passen große Skelette in die Schausäle der Sonderausstellung. Ganz zu schweigen davon, was es bedeutet, wenn die Saurier in Lebensgröße aufgebaut werden sollen. Manche Skelette sind so riesig, die hätten nicht einmal Platz, wenn wir Zwischenwände rausreißen würden, von der Raumhöhe rede ich da noch gar nicht.“
„So groß? Wirklich?“
„Größer“, bekräftigte Uschi. „Viel größer.“
Robert zeigte sich unbeeindruckt. „Ich stell mir gerade zehn oder zwanzig solche Riesenskelette hintereinander vor. Schon das erste haut dich wegen seiner schieren Größe um, aber wenn du weitergehst, wird es immer noch besser und noch größer. Ein Supersaurier reiht sich an den nächsten, und jedes Mal, wenn es dir den Atem verschlägt, ragt dahinter schon der nächste Supersaurier hervor. Klingt das nicht wie der perfekte Besuchermagnet? So einen Erfolg kann sich Willendorfer unmöglich entgehen lassen.“
„Hast du mir zugehört? Wir haben im Museum nicht einmal genug Platz für einen Riesensaurier, geschweige denn für zehn oder zwanzig von ihnen.“
„Im Museum nicht“, stimmte er zu und ließ seinen Blick über die Parkanlage zwischen den Museen wandern, „aber findest du nicht auch, dass sich der Platz nach fast 130 Jahren gärtnerischer Fantasielosigkeit ein wenig Abwechslung verdient hat?“
„Hier draußen?“
„Warum nicht? Platz ist doch genug. Wir brauchen natürlich entsprechende Gerüste mit Abdeckplanen gegen Wind und Regen, aber die könnten wir gleich mit Werbung für die Ausstellung bedrucken lassen, dann kann uns keiner übersehen.“
„Und der Brachiosaurus bekommt einen eigenen Regenschirm und darf oben aus der Ausstellung rausgucken, weil sein Hals zu lang ist“, scherzte Uschi.
„Super Idee! Dann sieht man ihn schon von der Hofburg.“
„Du meinst das ernst.“
„Logisch. Du hast doch selbst gesagt, dass ein Teil der Leihverträge schon unterschrieben ist und du für Saurierskelette zahlen musst, die du aus Platzgründen gar nicht aufstellen kannst. Also was ist naheliegender, als die passenden Räumlichkeiten für diese und weitere Ausstellungsstücke zu schaffen? Schau dich um! Gibt es irgendeinen Saurier, den du hier draußen nicht unterbringen könntest?“
Sie schüttelte gedankenversunken den Kopf.
„Na bitte. Willendorfer soll sich um die Genehmigungen beim Magistrat kümmern, dafür lieferst du ihm eine Ausstellung, für die sich Besucher aus der ganzen Welt anstellen werden.“
„Klingt das nicht ziemlich größenwahnsinnig?“
Robert stieß einen gelangweilten Lacher aus. „Er hat dir nicht verraten, warum ihm diese Ausstellung so wichtig ist?“
Uschi zögerte. „Nein.“
„Das sieht ihm ähnlich.“
„Dann sag du es mir, bitte.“
„Lieber nicht.“
„Robert!“
„Das ist ein altes Geheimnis des Hauses“, zierte er sich. „Er wird seinen Grund haben, warum er dir nichts davon erzählt hat.“
„Schmarrn. Welchen Grund sollte es dafür geben?“
Schulterzucken. „Du könntest über Nacht schwanger werden und den Job hinschmeißen.“
Uschi reagierte mit verdutztem Blick.
„Okay, ich verrat’s dir. Aber nur, damit du weißt, was auf dich zukommt - verantwortungstechnisch, meine ich.“
„Schieß los!“
„Der Anfang der Geschichte liegt schon lange zurück.“ Er räusperte sich. „Willendorfers Großvater... Oder war es sein Urgroßvater...? Ist ja auch egal. Jedenfalls hat einer seiner Vorfahren als Kurator im Museum gearbeitet. Saurier sind damals gerade schwer im Kommen gewesen, weil die Leute von den riesigen Knochenfunden fasziniert waren. Aus der ganzen Welt sind ständig neue Arten gemeldet worden. Irgendwann sind dann ein paar schlaue Leute auf die Idee gekommen, dass es eine Weltausstellung geben sollte, bei der alle bisherigen Funde gezeigt werden.“
„Sind Weltausstellungen nicht eher für technische Themen?“
„Was weiß denn ich...? Auf jeden Fall sollte das Ganze in Europa über die Bühne gehen. Dieser Ur-Willendorfer war angeblich ganz vorn dabei, um die Ausstellung nach Wien zu holen. Er soll politisch ziemlich einflussreich gewesen sein und jahrelang alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, damit es klappt - hat es am Ende aber nicht.“
„Warum nicht?“, fragte Uschi.
„Weil der Zweite Weltkrieg dazwischengekommen ist und er keine Ausstellung mit Hakenkreuzfahnen wollte.“
„Wieso Hakenkreuze? Ich meine, wieso im Museum?“
„Das ist ein ganz dunkles Kapitel unserer Geschichte“, sagte Robert mit ernster Miene. „Die Nazis haben in den Museen - leider auch in unserem - eine Möglichkeit gesehen, ihre kranken Ideen den gebildeten Schichten näherzubringen. Vor allem die Anthropologische und die Prähistorische Abteilung wurden missbraucht, um den Rassentheorien einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben. Und weil sich kein seriöser Wissenschafter für so etwas hergegeben hätte, haben sie die Führungsriege - beginnend vom Museumsdirektor bis hinunter zu den Abteilungsleitern - ausgetauscht und durch eigene Leute ersetzt. Wer nicht bereit war, sich den Nazis anzubiedern, wurde entfernt. Binnen weniger Monate waren die wichtigsten Museen und Ausstellungen des Landes unter ihrer Kontrolle und mit Hakenkreuzfahnen zugehängt.“ Er machte eine nachdenkliche Pause, bevor er das Thema beendete: „Na ja, und danach war alles zerbombt, und die Leute hatten andere Sorgen als eine Weltausstellung. Aber für Willendorfer ist diese Ausstellung so was wie eine Erbschuld seiner Familie der Gesellschaft gegenüber. Die Sache nagt wahrscheinlich schon seit Generationen an seinem Stammbaum. Und er ist der Erste, der diese Scharte auswetzen kann, weil er es zum Museumsdirektor geschafft hat.“
„Langsam wird mir klar, warum unser Herr Direktor so erpicht auf diese Saurierausstellung ist.“
„Dann ist dir hoffentlich auch bewusst, was er sich von dir erwartet. Je größer du die Sache aufziehst, umso mehr Freude bereitest du ihm. Ich bin sicher, er wird dir jede Unterstützung zukommen lassen, die in seiner Macht steht, wenn du ihm zu verstehen gibst, wie ernst du das Projekt nimmst.“
„Danke für deine Offenheit, Robert. Auf jeden Fall hat die Ausstellung jetzt neben der beruflichen auch eine zwischenmenschliche Komponente, was die Sache nicht unbedingt leichter für mich macht.“
„Bloß keine Selbstzweifel! Du warst seine erste Wahl, das sagt sehr viel aus. Wenn du jetzt noch in den richtigen Dimensionen denkst, kannst du eigentlich gar nichts falsch machen. Der ganze Platz hier wartet doch nur darauf, dass ihn jemand endlich ins richtige Licht setzt. Warum also nicht du?“
„Vielleicht hast du recht“, murmelte sie. „Ich meine, wenn man hier...“ Sie sah sich in alle Richtungen um. „Oder dort drüben zum Beispiel...“ Sie kritzelte etwas auf ihren Block. „Und dort...“
„Uschi?“
„Ja?“
„Hast du schon einen Titel für die Ausstellung?“
„Puuh, nein. So weit bin ich noch lange nicht. Ich denk mir, schlimmstenfalls muss es eben der bisherige Arbeitstitel tun, obwohl er mir gar nicht gefällt. Ich werde einfach auf mein Glück vertrauen und auf eine Eingebung hoffen. Oder fällt dir etwas ein?“
„Ich bin nur der Haustechniker.“
„Verstehe. Möchte mir der Haustechniker vielleicht einen Vorschlag machen?“
„Wie wäre es mit dem Originaltitel von damals?“
Ihre Augen weiteten sich. „Du weißt, wie...?“
„Ich hab sogar noch mehr für dich, wenn du möchtest.“
„Aber woher...?“
„Ich bin der Haustechniker.“ Er zwinkerte ihr zu. „Mir bleibt nichts verborgen. Jedenfalls nicht dauerhaft. Vor ein paar Jahren bin ich beim Aufräumen auf mehrere Rollen mit alten Werbeplakaten gestoßen. Zwei Entwürfe für die Weltausstellung waren auch dabei, einen davon finde ich richtig gut.“
„Das ist ja großartig! Hast du sie Willendorfer schon gezeigt?“
„Er hat mich nie danach gefragt.“
„Und meiner Vorgängerin? Ihr hast du die Entwürfe auch nicht gezeigt?“
„Sie hat mich nie danach gefragt.“
„Weil du nur der Haustechniker bist?“
„Vermutlich.“ Sein Grinsen sprach Bände.
***
Einige Monate später im Südchinesischen Meer:
In den Bienenstöcken war Ruhe eingekehrt, weshalb es relativ ungefährlich war, sich ihnen so weit zu nähern, wie Tang Dalong es an diesem Abend tat. Auch wenn die Bienen an die typischen Imkerarbeiten einigermaßen gewöhnt waren, war es nicht ratsam, ihre Stöcke anzuheben, um an das Bargeldversteck zu kommen. Jeder von Dalong verdiente und gesparte Dollar lag hier mindestens so sicher wie in einem Banksafe. Heute waren wieder sechshundert Dollar dazugekommen - letztlich wieder nur ein viel zu kleiner Tropfen auf dem heißen Stein, wie sich schon bald herausstellen sollte.
In einem der Stöcke summte es bedrohlich, als Dalong ihn wieder an seinen Platz rückte. Es war Zeit, die Bienen in Ruhe zu lassen, und sich um noch wichtigere Dinge zu kümmern.
Der teilweise bewölkte Himmel erwies sich als perfekt für das Vorhaben von Dalong. Obwohl auf der einsamen Insel kaum Gefahr bestand, bei der Arbeit beobachtet zu werden, war Dalong berufsbedingt vorsichtig. Der tropische Regen hatte bereits im Laufe des Nachmittags aufgehört, doch der Boden war immer noch feucht und rutschig. Dass der Regenwald hier nicht so üppig wuchern konnte wie auf anderen Inseln, war vor allem der besonderen Geologie zu verdanken. Gut die Hälfte der Gesamtfläche war entweder von Natur aus kahl oder war gerodet worden.
Die rostige Blechhütte der einstigen Großfamilie Tang lag an der Nordwestküste von T11114 - so lautete der Name der Insel auf dem Pachtvertrag. Dalongs Großvater hatte die Pacht vor über vier Jahrzehnten ausgehandelt und den Vertrag unterschrieben. Ein echtes Schnäppchen, denn außer ihm hatte sich niemand für den bewaldeten Fels im Meer interessiert. Auf den ersten Blick war die kleine Insel auch gar nichts Besonderes, eben eine von vielen im Südchinesischen Meer. Dem alten Tang, einem leidenschaftlichen Imker und Glücksjäger, war ihre besondere Geologie aber sofort aufgefallen. Es gab wenige Bruchstücke der Kontinentalplatte, die es so weit nach Süden geschafft hatten. Dass T11114 ausgerechnet hier gelandet war, hatte sich Großvater Tang als Laune der Natur erklärt. Zeit seines Lebens war er dankbar gewesen, denn mit der Entdeckung der Insel hatte sich sein Schicksal erfüllt.
Das Baumaterial für seine Hütte und eine kleine Lagerhalle hatte er nach und nach vom Festland geholt und ohne fremde Hilfe zusammengebaut. Über die Jahre war aus all den Planken, Brettern, Planen und Wellblechteilen ein richtiges Zuhause entstanden. Sogar für einen kleinen Fernseher mit selbstgebastelter Antenne hatte es gereicht. Er war zwar nicht mehr komplett, die Bildröhre funktionierte aber auch ohne Gehäuse und Abdeckungen. Solange man keines der freiliegenden Kabel anfasste, hielten sich die Bildstörungen in Grenzen.
Fast sein ganzes Leben hatte der alte Tang auf der Insel verbracht und war immer nur weggefahren, um Vorräte einzukaufen oder die Früchte seiner Arbeit gegen Geld zu tauschen. Den größten Teil seiner Einnahmen hatte er seiner Familie am chinesischen Festland zukommen lassen, denn er selbst war immer schon an einfache Verhältnisse gewöhnt gewesen. Nur wenn die Geschäfte besonders gut gelaufen waren, hatte er auch ein paar Dollar für sein Herzensprojekt in einem Versteck unter den Bienenstöcken deponieren können.
Dalong hatte die Anhöhe erreicht und blieb erneut kurz stehen, um sich umzusehen. Die exponierte Position erlaubte einen perfekten Rundumblick: 360 Grad Nacht. Lediglich in der Blechhütte an der Küste brannte Licht. Absichtlich, denn es gab nur einen Weg hier herauf. Sollte jemand Dalong folgen, würde er beim Gehen zwangsläufig immer wieder den Blick auf das Licht verdecken und sich dadurch verraten.
Minuten verstrichen, doch niemand war zu sehen. Auch auf dem Meer tanzten keine Lichter von Fischerbooten oder Frachtschiffen zwischen den Wellen. Die Gegend war berüchtigt für ihre Untiefen und lag abseits der Handelsrouten, die von den riesigen Containerschiffen genutzt wurden. Wer hier Gesellschaft wollte, musste sie mitbringen, und selbst das funktionierte nicht immer. Der Tod des Großvaters hatte Dalongs Inselleben noch einsamer gemacht.
Vermutlich wäre es schlauer gewesen, dem Rest der Familie beizeiten aufs Festland zu folgen und die Insel Insel sein zu lassen. Doch das Zeitfenster, die Insel zu verlassen, hatte sich geschlossen. Dasselbe Jagdfieber, dem der Großvater in jungen Jahren verfallen war, hatte auch Dalong erwischt. Einmal hier, lebenslänglich hier, war das Motto des Großvaters gewesen. Dalongs Prognose war dennoch besser, viel besser sogar. In Kürze lief der Pachtvertrag aus, und damit würde sich das Leben radikal ändern.
Exakt fünfzig Jahre lang durften der alte Tang und dessen Erben alles aufsammeln und behalten, was sie auf der Insel fanden. Es war ihnen allerdings untersagt, Maschinen oder gar Bagger für die Suche einzusetzen. Außerdem durften keine Fundstücke von der Insel entfernt werden, die größer als eine Handfläche waren. Um etwaigen Diskussionen vorzubeugen, hatte der Großvater seinerzeit die flache Hand auf die Rückseite des Vertrags gelegt. Anschließend waren die Konturen mit schwarzer Tinte nachgezogen worden. Was immer darin Platz fand, durfte die Insel verlassen, der Rest musste bleiben.
T11114 war geradezu übersät mit Kleinfossilien, die bei Regen aus dem Fels gespült wurden. Kaum hatte man an einer Stelle alles aufgesammelt, sorgte ein Unwetter schon für neue Fundstücke. Laut Großvater beschleunigte das weiche Regenwasser die Verwitterung. Es war ein ständiges Kommen und Gehen von versteinerten Blättern, Schnecken und gelegentlich sogar kleineren Wirbeltierknochen. Letztere brachten bei den Großhändlern am Festland immer am meisten ein. Bei einfachen Stücken reichte es, sie vom Schmutz zu befreien und gelegentlich da oder dort etwas nachzuhelfen, um ihre Optik zu verbessern. Seltenere Fossilien verlangten ungleich mehr Zuwendung. Vor allem bei ausgefallenen Kundenbestellungen lohnte es sich, viel Kreativität in die Aufbereitung der Stücke fließen zu lassen, um das vermeintlich Unmögliche doch noch liefern zu können. Die Produktauswahl der Insel war zwar vertraglich beschränkt, doch darunter durfte das Geschäft nie leiden.
Zeit seines Lebens hatte sich der Großvater strikt an den Pachtvertrag gehalten und nie ein Stück von der Insel geschafft, das größer war als seine Handfläche. Viel zu selten waren nach einem kräftigen Wolkenbruch größere, zerbrochene Versteinerungen zum Vorschein gekommen, deren Teilstücke - jedes für sich genommen - erfreulicherweise in der Hand Platz gefunden hatten. Sie vor dem Verkauf wieder gewinnbringend zusammenzusetzen, galt als künstlerisches Talent, das der Großvater über die Jahre perfektioniert und an Dalong vererbt hatte. Noch war das Leben auf der Insel hart und voller Entbehrungen, aber schon bald würde es an Dalong sein, die großen Früchte der jahrzehntelangen Arbeit zu ernten.
Eine Wolke zog vor dem Mond vorbei, und die einsame Silhouette auf der Anhöhe vermischte sich vorübergehend mit dem Rest der Nacht. Dalong kniete nieder und öffnete ein dickes Vorhängeschloss, das zur Beruhigung diente. Anfang des Monats hatte eine Yacht die Insel umrundet, Tage später war ein weiteres Boot in Sichtweite vorbeigefahren. Die Yacht war vor zwei Nächten sogar kurz zurückgekehrt - sehr ungewöhnlich. Dalong war vorgewarnt.
Nur unter großer Anstrengung ließ sich die Metallplatte beiseiteschieben, die seit Jahren den größten Fund der Insel - ja, wahrscheinlich sogar den größten Fossilienfund überhaupt - versteckt hielt. Von Zeit zu Zeit war es nötig, einen Blick darauf zu werfen. Nicht etwa, weil Dalong Angst hatte, jemand könnte die Sensation unbemerkt stehlen, sondern weil bereits der Anblick im fahlen Mondlicht mehr Glücksgefühle auslöste, als eine Kreditkarte ohne Limit es je könnte. Jede einzelne Sekunde Auge in Auge mit dem Fund war purer Genuss und verbreiterte das Grinsen.
Viele kleine Schritte Richtung Ziel hatte der Großvater über die Jahre zurückgelegt, jetzt war es an Dalong, das steilste Stück des Weges allein zu meistern. Dabei lag der Schlüssel zum Erfolg in einem Vorkaufsrecht, das der Großvater erst kurz vor der Unterzeichnung in den Pachtvertrag reklamiert hatte. Sein Vertragspartner - der damalige Eigentümer der Insel - hatte die Bitte mit einem wohlwollenden Lachen genehmigt. Ihm war unbegreiflich gewesen, dass überhaupt jemand bereit war, einen Felshaufen im Meer zu pachten. Um dort Steine zu sammeln! Umso besser, wenn dieser jemand sich der nutzlosen Insel gleich für die nächsten fünfzig Jahre annahm, und noch besser, wenn er sie danach vielleicht auch noch kaufen wollte. So kam es, dass die Kaufoption unter Punkt 12 im zweiseitigen Pachtvertrag festgehalten wurde:
12. Der Eigentümer räumt dem Pächter unter folgenden Voraussetzungen ein Vorkaufsrecht ein.
Dalong wusste leider immer noch nicht, woher das fehlende Geld für die Anzahlung der Insel kommen sollte - vom Vermögen für die Restzahlung ganz zu schweigen. Nur eines stand fest: Angesichts dieses Fossils war der Kauf der Insel alternativlos.
***
Drei Wochen vor Ablauf des Vorkaufsrechts, USA:
Die Zweigstellen der Rechtsanwaltskanzlei Heart, Shark & Blackpepper lagen über ganz Nordamerika und Kanada verteilt. Durch die beispiellose Rundumbetreuung ihrer Klienten hatte sie sich auch jenseits des Atlantiks einen Namen gemacht. Es gab praktisch keine Dienstleistung, die man nicht anbot, egal wie kurzfristig und teuer man sie zukaufen musste. Der Grundsatz Alles aus einer Hand war das gelebte Leitbild von Heart, Shark & Blackpepper.
Nachteil ihrer zahlreichen Vernetzungen und Kontakte war die Nähe zu teils fragwürdigen Organisationen, die dem Image der Kanzlei schaden könnten, wenn sie ans Licht kämen. Nach massiven PR-Problemen in der jüngeren Vergangenheit hatte sich die Firmenspitze deshalb für eine komplette Überarbeitung des öffentlichen Auftritts entschieden. Dazu gehörte neben der Neugestaltung von Logo, Webauftritt, Briefpapier etc. auch eine millionenschwere Designoffensive in allen dreiundvierzig Zweigstellen. Die kalifornische Niederlassung war eine der ersten, der man das neue, farbenfrohe Design verpasst hatte: Schwarz und Weiß.
„Sieht ein wenig wie auf einem Friedhof aus“, bemerkte der Milliardenerbe Walther Lambert beim Durchschreiten der Eingangshalle.
„Wir bevorzugen den Vergleich mit einem Schachbrett“, entgegnete Ms. Quicksilver, die Anwältin von Lambert. „Der strategische Zugang ist beim erfolgreichen Schachspielen genauso wichtig wie bei unserer Arbeit.“
„Wenn Sie das sagen...“ Lambert war kein Freund von Rechtsanwälten, auch wenn er zugeben musste, dass Ms. Quicksilver in ihrem enggeschnittenen Kostüm ein willkommener Anblick war. Kein Vergleich zum alten Blackpepper - einem der Namensgeber der Kanzlei - der über Jahrzehnte Walther Lamberts Vater vertreten hatte.
„Sie sind doch damit einverstanden, dass Ms. Heart mich mit Ihrem Fall betraut hat?“, horchte sie ihren neuen Klienten vorsichtig aus. „Komplizierte Vorverträge bei Auslandsimmobilien sind mein Spezialgebiet.“
„Darf ich ehrlich sein?“, fragte er und ließ ihr den Vortritt in den Lift.
„Natürlich dürfen Sie ehrlich sein. Ich bin schließlich Ihre Anwältin.“
„Das ist gut, denn nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe, bin ich sehr zufrieden.“ Er lächelte charmant und fügte etwas leiser hinzu: „Ich hatte schon befürchtet, dass Ihre Chefin extra meinetwegen den alten Blackpepper wieder aus dem Keller holt. Wie alt ist er mittlerweile? Fünfundachtzig? Neunzig?“
„Er ist tot“, antwortete sie kühl. „Und soweit man mich informiert hat, bewahren wir ihn auch nicht im Keller auf.“
„Verstehe.“ Lambert trat vor die verspiegelte Rückwand und zupfte seinen Krawattenknopf zurecht. „Wie alt schätzen Sie mich, Ms. Quicksilver?“ Heute Morgen hatte er zwei graue Haare an seiner Schläfe entdeckt und ausgerissen.
„Darf ich ehrlich sein?“
„Natürlich dürfen Sie ehrlich sein. Sie sind schließlich meine Anwältin.“
„Sie sind neunundzwanzig und werden im Dezember dreißig.“
Er drehte sich zu ihr. „Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.“
„Fünfundzwanzig“, sagte sie nach einer Weile. „Ich hätte Sie auf fünfundzwanzig geschätzt. Aber ich verlasse mich lieber auf meine Unterlagen.“ Sie klopfte auf die Mappe unter ihrem Arm.
„Danke“, entgegnete er, als könnte er mit ihrer Antwort gut leben. „Da Sie sich schon eingelesen haben, verraten Sie mir doch, was Sie von meinem Vorhaben halten?“
„Sie spielen ein riskantes Spiel, Mr. Lambert“, brachte sie es ohne Umschweife auf den Punkt. „Ein sehr riskantes Spiel sogar.“
„Das ist der Grund, warum ich in Ihre Kanzlei gekommen bin. Einen einfachen Kaufvertrag könnte mir jeder x-beliebige Anwalt aufsetzen.“
„Da haben Sie recht.“
„Sie bekommen doch jetzt keine kalten Füße?“, fragte er herausfordernd.
Verhaltenes Kopfschütteln. „Es ist Ihr Geld, das Sie riskieren. Und wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, Sie haben mehr als genug davon.“
„Was wollen Sie mir damit sagen? Dass ich es nicht mehr nötig habe, dieses Projekt umzusetzen, weil ich ohnehin schon zu viel Geld besitze? Oder, dass es mir nicht leidzutun bräuchte, wenn die Sache schiefgeht, weil mir trotzdem noch genug bleiben würde?“
„Beides, Mr. Lambert. Im Grunde ist es egal, wie die Sache für Sie ausgeht. Am Ende werden Sie trotzdem mehr Geld besitzen, als Sie je ausgeben können.“
„Ich könnte heiraten“, konterte er mit Blick auf den silberfarbenen Ring an ihrer Hand. „Dann hätte ich mein Vermögen mit einem Schlag halbiert.“
„Nicht, wenn Sie einen Ehevertrag aufsetzen lassen.“
„Ich könnte eine Anwältin heiraten.“
„Das könnte Sie in der Tat ruinieren.“
Sie stiegen aus dem Lift, und Lambert folgte ihr in ein schwarz getäfeltes Besprechungszimmer. Auf sämtlichen Flächen glänzte hochpolierter Klavierlack.
„Richtig gemütlich haben Sie es hier.“ Er nahm auf einem der schwarzen Stühle Platz.
„Das werden Ihre Vertragspartner genauso sehen. Wie schon gesagt, wir legen viel Wert auf den strategischen Teil unserer Arbeit. Jede Art der Ablenkung ist kontraproduktiv.“
„Wenn Sie jetzt auch noch schwarze Zettel aus ihrer schwarzen Mappe holen...“ Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Sie überging die Spitze mit einer Frage: „Sie könnten Ihr Risiko bei dem Deal auf null reduzieren, wenn Sie sich bis Ende des Monats Zeit lassen. Das ist Ihnen doch sicher bewusst?“
Er nickte. „Mein einziger Interessent könnte es sich aber auch anders überlegen und eine andere, schlechter gelegene Insel für weniger Geld kaufen, um sein Hotelprojekt dort durchzuziehen. Dann hätte ich meine große Chance vertan.“
„Eine andere Verwertungsmöglichkeit für Ihre Insel sehen Sie also nicht, nachdem der Pachtvertrag ausgelaufen ist?“
„Lassen Sie mich nachdenken... Nein!“, reagierte er leicht verärgert. Gleich darauf schien es ihm aber leidzutun, und er fuhr mit versöhnlichem Tonfall fort: „Sie glauben wahrscheinlich auch, dass die Interessenten Schlange stehen, um diese unwiderstehliche Ferieninsel zu kaufen. Als Besitzer muss man nur ein Zu-verkaufen-Schild am Strand aufstellen und warten, bis ein Millionär mit seiner Partyyacht vorbeischippert. Aber so läuft es leider nicht. In Florida vielleicht, aber nicht im Südchinesischen Meer. Da muss man schon froh sein, wenn ein Dummer kommt und die Insel für fünfzig Jahre pachtet.“
„Die Insel für weitere fünfzig Jahre zu verpachten kommt also nicht infrage?“
„Selbst wenn“, entgegnete er mit skeptischem Blick, „die paar Dollar, die dabei reinkommen würden, sind nichts im Vergleich zu den Millionen, die mir das Baukonsortium für die Insel zahlt.“
„Das Angebot erscheint mir auch sehr hoch. Ist die Insel wirklich so viel wert?“
Er zuckte mit den Schultern. „Kommt darauf an, wen Sie fragen. Mir wäre sie nicht einmal ein Zehntel des gebotenen Geldes wert, aber ich plane ja auch kein Luxusressort für die Superreichen.“
„Warum gerade Ihre Insel? Es gibt doch unzählige Inseln im Südchinesischen Meer.“
„Kann ich Ihnen sagen. Zum einen sind die Eigentumsverhältnisse einwandfrei geklärt. Das ist bei einem Großprojekt in dieser heiklen Region extrem wichtig. Keiner investiert ein paar Milliarden in ein Luxusressort, wenn das Risiko besteht, dass die Insel, auf der es errichtet wird, jederzeit von einem der Nachbarländer annektiert werden kann. Zum anderen liegt sie günstig. Die großen Seestraßen für Containerschiffe und Supertanker verlaufen alle viel weiter westlich.“
„Das ist gut, weil...?“, hakte Quicksilver nach.
„Kein Millionär will seine Yacht an der Autobahn parken. Die Lage entscheidet, ob Sie auf der Insel ein Motel errichten können oder ein Luxusressort mit Yachtanlegestellen, Tauchstationen, Golfplatz, Privatflughafen und was immer denen noch so vorschwebt. Wer in Luxusimmobilien investiert, braucht Rechtssicherheit und eine gute Lage, beides bietet meine Insel.“
„Ich verstehe Ihren Standpunkt als Verkäufer, aber ich habe gelesen, dass es auch zahlreiche Untiefen gibt. Das sind nicht unbedingt die besten Voraussetzungen, wenn man einen Anlegeplatz für Luxusyachten plant.“
„Peanuts!“, wehrte er ihren Einwand ab. „Ein Baggerschiff kann dieses Problem in einer Woche beheben, und glauben Sie mir, das kostet weniger als das Aufsetzen des Kaufvertrags.“
„Wenn Sie das sagen...“, ließ sie sich überzeugen. „Trotzdem brennt mir noch eine Frage unter den Nägeln.“
„Schießen Sie los!“
„Nirgendwo auf der Welt gibt es derzeit mehr Superreiche als in Asien. Das Geld sitzt locker, und der Yachtverkauf boomt. Das Baukonsortium ist offenbar überzeugt, die perfekte Zielgruppe für das Bauprojekt gefunden zu haben. Nur die passende Insel fehlt den Leuten noch - Ihre Insel. Warum geben Sie sich mit den Millionen aus dem Verkauf zufrieden, Mr. Lambert? Sie könnten doch selbst in dieses Milliardengeschäft einsteigen. Warum bauen Sie nicht Ihr eigenes Luxusressort?“
„Von zwei Dingen lass die Finger“, zitierte er seinen verstorbenen Vater, „von fremden Geschäften und von fremden Frauen.“ Was er vorsorglich für sich behielt, war, dass er genug von all seinen Beratern und ihren guten Ratschlägen hatte, die er mitsamt dem Firmenimperium geerbt hatte: Berater für Immobilien, für Finanztransaktionen, für Rohstoffimporte, für Warenexporte, für Designfragen, für Medienauftritte und mindestens zwei Dutzend weitere Assistenten und Berater, auf die er längst nicht mehr hörte. In nahezu allen Belangen bezahlte er Menschen, die ihm erklärten, was er wissen musste, um diese oder jene Geschäfte tätigen zu können.
Schlimmer waren nur noch die Glücksritter, die an seine Tür klopften, um ihr geheimes Wissen zur Erlangung unermesslichen Reichtums mit ihm zu teilen. Wenn diese Leute wirklich so gute Tipps hatten, wie man Geld vermehren konnte, warum kümmerten sie sich nicht um ihr eigenes? Sie waren nichts als Schmeißfliegen, die vom Geruch der Dollarscheine angezogen wurden.
Lambert hatte sie alle satt. Wo immer es ihm möglich war, entschied er selbst - zumeist aus dem Bauch heraus. Und sein Bauch sagte ihm, dass er von Hotelburgen und Luxusressorts keine Ahnung hatte. „Ich möchte künftig in Bereiche investieren, von denen ich etwas verstehe, und werde keine Geschäfte mehr tätigen, bei denen ich mich Beratern und Expertenmeinungen ausliefern muss.“
„Risikoscheu?“ Ihr Blick taxierte ihn, als hätte sie bisher etwas Wesentliches übersehen. „Wie passt das zu dem Zeitdruck, den Sie sich beim Vorvertrag machen?“
„Ich habe Informationen, die sehr wahrscheinlich noch nicht in Ihrer Mappe stehen. Ich weiß nämlich aus guter Quelle, dass das Baukonsortium bis Ende des Monats eine Standortentscheidung treffen muss. Anderenfalls ist die langfristige Finanzierung des Projekts gefährdet. Das macht es leider sehr wahrscheinlich, dass es eine andere Insel wird, wenn ich den Vorvertrag nicht wie vereinbart bis Ende der Woche unterschreibe. Und ehrlich gesagt kann ich meine Geschäftspartner gut verstehen. Bei einem solchen Milliardenprojekt würde ich mich auch nicht bis zum Ablauf der Frist hinhalten lassen. Dafür ist zu viel Geld im Spiel. Wir reden hier von Beträgen, bei denen selbst große Banken nervös werden. Also entweder passiert es noch diese Woche, oder es passiert gar nicht. Das ist die Bedingung, zu der ich verkaufen kann.“
„Das ist wirklich neu für mich!“ So wie sie es sagte, klang es wie ein Vorwurf, weil er diese Information bisher zurückgehalten hatte. „Und es erklärt auch Ihre Eile. Trotzdem muss ich sichergehen, dass Ihnen die Tragweite eines solchen Vorvertrags mit all seinen juristischen Konsequenzen bewusst ist.“
„Nichts unterschreiben, solange du das Kleingedruckte nicht gelesen und verstanden hast“, murmelte er.
„Der neue Vertrag macht mir keine Sorgen“, stellte sie klar. „Das Problem ist der alte Pachtvertrag, den Ihr Vater vor fünfzig Jahren unterschrieben hat. Sie wissen, dass der Pächter... Mr. Tang ein Vorkaufsrecht auf die Insel hat? Wohlgemerkt zu einem Preis, der um ein Vielfaches niedriger ist als das Angebot, das Ihnen das Baukonsortium jetzt macht.“
„Mr. Tang ist tot, genau wie mein Vater. Und schon bald ist auch das Vorkaufsrecht samt Pachtvertrag Geschichte.“
„Es sei denn, einer der Nachfahren tritt in das Rechtsverhältnis ein und beabsichtigt, die Insel zu kaufen. Soweit ich weiß, wird die Pacht für die Insel nach wie vor bezahlt.“
„Nicht immer so pünktlich wie früher, aber im Wesentlichen passt es“, bestätigte Lambert.
„Damit bleibt das ursprüngliche Vorkaufsrecht des Pächters auf den Kauf der Insel weiterhin gewahrt.“
„Aber nur noch bis Ende des Monats - zwanzig Tage, heute nicht mitgerechnet. Wenn bis dahin nicht die Hälfte des Kaufpreises angezahlt wird, verfällt das Vorkaufsrecht. Stimmt doch, oder?“
„Drei Wochen sind eine lange Zeit.“
„Und eine halbe Million Dollar sind eine Menge Geld, wenn man sie mit dem Verkauf von versteinerten Blättern und Käfern verdienen muss. Da reicht es nicht aus, fünfzig Jahre zu sparen. Außerdem ist die halbe Million nur die Anzahlung, also gerade einmal die Hälfte der Summe, die der Käufer auf den Tisch legen müsste.“
„Ihre Zuversicht ist offensichtlich, aber was könnte im schlimmsten Fall passieren?“
„Mein Worst Case?“ Sein Blick verfinsterte sich. „Im schlimmsten Fall lasse ich das Baukonsortium jetzt vom Haken und es einigt sich hinter meinem Rücken mit dem Pächter. Dann wäre ich raus aus dem Geschäft und hätte sowohl das Geld als auch die Insel verloren.“
„Sie meinen, dass der Pächter als Strohmann auftritt und die Insel für das Baukonsortium kauft?“
„Ginge das?“
Sie verneinte entschieden. „Dagegen sind wir vertraglich abgesichert. In einem solchen Fall wäre der Deal sofort geplatzt.“
„Dann sehe ich auch keinen Grund, den Vorvertrag nicht zu unterschreiben.“
„Ich würde trotzdem gern ein paar Nachforschungen zu den Nachfahren von Mr. Tang anstellen, wenn das für Sie okay ist. Wir werden versuchen, schriftlich Kontakt aufzunehmen, um den neuen Pächter darüber zu informieren, dass Heart, Shark & Blackpepper auch weiterhin die Interessen der Familie Lambert vertritt. Außerdem werden wir um eine Stellungnahme bezüglich der Kaufoption bitten. Vielleicht erfahren wir so ja etwas mehr aus erster Hand.“
„Tun Sie, was immer Ihr Job von Ihnen verlangt. Ich habe nichts dagegen. Es wird bloß nichts Neues dabei rauskommen.“
„Geben Sie mir ein paar Tage, damit ich...“
„Freitag“, unterbrach er sie. „Was immer Sie herausfinden möchten, tun Sie es bitte schnell. Das großzügige Angebot des Baukonsortiums macht den Inselverkauf für mich alternativlos.“
***
Sechzehn Tage vor Ablauf des Vorkaufsrechts, Kalifornien:
„Nichts gegen Ihre farbenfrohe Firmenarchitektur“, sagte Walther Lambert und bot Ms. Quicksilver einen Platz am runden Cafétisch an, „aber ich fühle mich auf der Terrasse des Eiscafés wohler als auf einem Schachbrett.“
„Soll mir recht sein.“ Die Anwältin ließ sich nicht anmerken, dass sie ein wenig geschmeichelt war, weil ausgerechnet sie den Nachmittag mit einem der exklusivsten Klienten der Kanzlei verbringen durfte - noch dazu in so lockerer Atmosphäre.
Quicksilver entschied sich für einen Fruchtbecher, den die Karte als Grand Canyon anpries, Lambert nahm eine Eiszeit ohne Haselnusssplitter - auf Nüsse war er allergisch - und ohne Alkohol, weil er den aus anderen Gründen nicht vertrug.
„Also“, begann er, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, „was haben Sie für mich herausgefunden? Muss ich mir Sorgen machen, oder raten Sie mir, den Vorvertrag morgen zu unterschreiben?“
„Es ist ein wenig kompliziert, Mr. Lambert. Leider hat bis jetzt noch niemand auf unsere Bitte um Stellungnahme zur Kaufoption geantwortet. Das war aber in der kurzen Zeit auch nicht zu erwarten. Lassen Sie mich zunächst mit dem Teil der Familie Tang beginnen, der dank der Nachforschungen unserer Partnerkanzlei vor Ort schnell erledigt war.“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Tang hatte drei Söhne, die beiden älteren auf dem chinesischen Festland, der dritte zog auf eine vorgelagerte Insel. Er war Fischer und gilt seit fast zwanzig Jahren als auf See vermisst. Zwei Kinder, wobei nur noch eines am Leben ist, doch dazu später mehr. Die beiden anderen Söhne Tangs lebten mit ihren Familien in Sichuan.“ Es folgte eine vielsagende Pause, die zum Nachdenken anregen sollte.
„War da nicht dieses schreckliche Erdbeben?“
„Mai 2008“, bestätigte Quicksilver. „Es hat beide Familien ausgelöscht. Furchtbare Geschichte.“
„Das ist wahr“, reagierte er betroffen.
„Andererseits erleichtert es unsere Nachforschungen, und das wiederum spart Ihnen Zeit und Geld.“
„Man gewinnt nichts durch den Verlust von Menschenleben. Am Ende ist jede Tragödie immer nur eine Tragödie.“
„Eine sehr gute Einstellung. Trotzdem ist es meine Aufgabe, in jeder Situation das Optimum für Sie herauszuholen und Sie bestmöglich zu beraten. Kommen wir also wieder zurück zu Ihrem Fall: Von Tangs Familie ist fast nichts mehr übrig. Ich konnte noch eine Halbschwester an der Grenze zur Mongolei ausfindig machen, aber sie ist für die Erbfolge bedeutungslos, solange Tang noch direkte Nachfahren hat.“
„Das Kind des Fischers“, sprach er seinen Gedanken aus.
„Dalong Tang“, stimmte sie zu. „Derselbe Name, der auch auf den Zahlungsabschnitten für die monatliche Inselpacht auftaucht. Das macht Ihr Problem zumindest insoweit überschaubar, als wir uns nur noch auf diese eine Person konzentrieren müssen.“
„Wenn Dalong Tang die Insel in den verbleibenden Tagen nicht anzahlt, habe ich gar kein Problem mehr. Was wissen Sie über den finanziellen Hintergrund?“
„Wir sind auf kein millionenschweres Bankkonto unter diesem Namen gestoßen, wenn Sie das meinen.“
„Na also, dann spricht doch nichts mehr dagegen, dass ich morgen den Vorvertrag mit dem Baukonsortium unterschreibe und alles in trockene Tücher bringe.“
„Ein Restrisiko bleibt“, wandte sie ein. „Sie wollen die Insel jemandem verkaufen, obwohl Ihr Pächter ein Vorkaufsrecht darauf hat. Theoretisch könnte es zu folgender Situation kommen: Sie versprechen den Leuten vom Baukonsortium, dass Sie ihnen in zwei Monaten Ihre Insel verkaufen. Gleichzeitig wissen Sie aber jetzt schon, dass Ihnen die Insel in zwei Monaten vielleicht gar nicht mehr gehört. Sollte dieser Fall eintreten, kann es teuer für Sie werden. Empfehlen kann und darf ich Ihnen ein solches Geschäft jedenfalls nicht.“
„Das ist jetzt aber sehr theoretisch. Um Ihr Szenario in meiner Realität zu verankern, fehlen drei entscheidende Dinge: das Kaufinteresse des Pächters, seine halbe Million Anzahlung und - nicht zu vergessen - weitere Fünfhunderttausend als Restzahlung obendrauf. Ich habe Ihnen doch neulich schon erklärt, dass man mit dem Verkauf von Käfern und Muscheln keine Million verdienen kann. Glauben Sie mir, dieser Tang will meine Insel nicht, sonst hätte er sich schon längst gemeldet, und er hat auch gar nicht das Geld dafür.“
„Das sagen Sie, und ich würde das gern glauben, aber die Wahrheit ist, wir wissen es nicht.“
„Ich war zwar selbst nie auf der Insel, aber ich könnte mir vorstellen, dass dort mittlerweile alles an Fossilien aufgesammelt wurde. Das macht es umso unwahrscheinlicher, dass jemand sie kauft, um dort weitere fünfzig oder hundert Jahre versteinerte Grashalme zu sammeln.“
„Vielleicht ist genau das der entscheidende Fehler.“
„Was? Dass ich in versteinertem Gras kein Geschäftsmodell mit Zukunft erkennen kann?“
„Dass Sie noch nie einen Fuß auf die Insel gesetzt haben.“ Quicksilver bekam den Grand Canyon vor die Nase gestellt und stürzte sich sofort darauf.
„Danke“, sagte Lambert zum Kellner und wandte sich wieder seiner Anwältin zu: „Sie meinen also, ich sollte der Insel einen Besuch abstatten, bevor ich mich davon trenne?“
„Klingt das in Ihren Ohren denn nicht vernünftig? Man kann den Wert einer Sache doch erst richtig einschätzen, wenn man sie selbst gesehen hat. Ich meine, was wissen Sie über diese Insel wirklich - abgesehen von dem, was in einem fünfzig Jahre alten Pachtvertrag steht? Oder über den Pächter? Was wissen Sie von Dalong Tang? Sie haben ihn nie gesprochen. Wollen Sie sich wirklich darauf verlassen, dass er genauso denkt wie sein Großvater? So etwas gehört doch vorher abgeklärt. Vielleicht ergibt sich auf der Insel sogar die Gelegenheit, ihn persönlich zu treffen.“
„Da ist was dran.“ Er wurde nachdenklich. „An dem Argument ist tatsächlich was dran.“
„Ihnen bleiben noch etwas mehr als vierundzwanzig Stunden, um alle Zweifel auszuräumen und Ihr Geschäft wasserdicht zu machen“, sagte sie mit Blick auf die zierliche Uhr an ihrem Handgelenk.
„Das reicht gerade, um hinzukommen, aber nicht für den Rückflug und die Vertragsunterzeichnung.“
„Wer sagt denn, dass Sie den Vertrag hier unterschreiben müssen? Wir leben in einer globalisierten Welt. Unterschreiben Sie eben in unserer Partnerkanzlei in Hongkong, und wir mailen eine beglaubigte Kopie nach Hause. Juristisch reicht es, wenn das Original erst nächste Woche eintrifft.“
„Wir?“ Er balancierte den vollen Löffel vor dem Mund. „Haben Sie gerade vorgeschlagen, mit mir nach China zu reisen?“
„Ich bin Ihre Anwältin, schon vergessen? Da werden Sie doch hoffentlich nichts ohne mein Beisein unterschreiben.“
„Sie überraschen mich, Ms. Quicksilver.“
„Ich mache nur meinen Job, aber den richtig.“
Die innere Unruhe bei Lambert trat zu Tage. Entweder das, oder das Sitzen war ihm unbequem geworden. „Na schön“, sagte er und stand auf. „Lassen Sie uns fliegen! Wie lange brauchen Sie, um Ihren Koffer zu packen?“
„Ich dachte, wir hätten es eilig?“ Sie löffelte weiter an ihrem Eis.
Lambert stutzte. „Wenn es Ihnen lieber ist, können wir auch am Flughafen alles Nötige kaufen.“
„Einverstanden, ich brauche ohnehin nicht viel, und es dürfte die Sache beschleunigen.“
„Ich rufe gleich meine Sekretärin an, dass sie den Flug für uns bucht. Sie haben nicht zufällig Ihren Reisepass dabei?“
„Habe ich mich auf den Job vorbereitet?“ Sie behielt den Eisbecher anvisiert, während sie mit der Linken ihre Handtasche öffnete und zielsicher den Reisepass herauszog. „Sie soll uns unbedingt auf die Maschine nach Hongkong buchen, das spart uns die zeitraubenden Formalitäten am chinesischen Festland.“
Wenige Minuten später hatte der Milliardär alles in die Wege geleitet und sich mit seiner Spontaneität selbst überrascht. Bisher hatte sich sein Leben vorrangig um Geld gedreht. Es war immer da gewesen, und es hatte sichergestellt, dass alles so weiterlaufen konnte wie bisher. Der Gedanke, einmal etwas nur der Sache selbst wegen zu tun, war ebenso neu wie reizvoll für ihn. Zu reizvoll, um diese Chance auf Abwechslung auszulassen. „Unser Flug geht in drei Stunden“, verkündete er.
„Ich bin bereit, wenn Sie es sind“, bestätigte Quicksilver und legte den Löffel neben das leere Glas.
Erst jetzt fiel Lambert auf, dass er neben dem Telefon die ganze Zeit auch seinen tropfenden Löffel in der Hand gehalten hatte. Und von der Eiszeit in seinem Glas war nicht mehr übriggeblieben als ein blaugrüner Gletschersee mit Ananasstücken und Schirmchen - nicht die besten Anzeichen dafür, dass er alles im Griff hatte. „Ich muss verrückt sein, dass ich mit Ihnen Hals über Kopf nach China fliege, um eine Insel zu sehen, die ich morgen loswerden möchte.“
„Sie wären verrückt, wenn Sie es nicht täten.“ Die Anwältin stand auf und strich den Rock ihres Kostüms glatt. „Wollen wir?“
***
Kurz darauf in Hongkong:
Es regnete nur leicht, doch der Wetterbericht verhieß nichts Gutes. Ein Sturmtief hatte über dem Südchinesischen Meer große Wassermassen aufgenommen und suchte nach einer Möglichkeit, sie wieder loszuwerden. Die dunklen Wolken über der Skyline von Hongkong passten gut zur Stimmung im Inneren des dritthöchsten Glasturms im Bankenviertel.
„Es tut mir ehrlich leid, dass ich Ihnen keine bessere Antwort geben kann“, sagte der Mann an der wichtigen Seite des Schreibtisches. Sein Anzug hatte ungefähr so viel gekostet, wie ein durchschnittlicher Angestellter seiner Bank im Monat verdiente. „Natürlich weiß ich es zu schätzen, dass Ihre Familie uns schon seit über fünfzig Jahren die Treue hält. Ich kann mich sogar daran erinnern, als ich Ihrem Großvater zum ersten Mal begegnet bin. Damals habe ich noch unten am Schalter gearbeitet und seine Pachtbelege verbucht. Ein sehr anständiger Mann, stets freundlich und korrekt, das ist heute leider selten geworden.“ Es war seinem Gesicht anzusehen, dass er sich die Entscheidung über Dalongs Kreditansuchen nicht leicht gemacht hatte. „Aber Sie müssen mich auch verstehen. Es ist nicht mein Geld, um das Sie mich bitten. Ich habe Verantwortung gegenüber der Bank, ihren Mitarbeitern und Aktionären. Es gibt eine Menge Regeln, die wir bei der Vergabe von Krediten zu beachten haben. Ganz besonders bei einer Summe, wie sie Ihnen vorschwebt.“
Dalong nickte stumm. Die Worte des Bankers ergaben durchaus Sinn, sie waren nur nicht das, was die junge Chinesin hören wollte. Im Grunde entsprach das Gesagte dem, was sie bereits in den anderen Banken zu hören bekommen hatte - wenn auch nicht ganz so herzlich verpackt. Dalong hatte eine Bank nach der anderen abgeklappert, in der Hoffnung, in Summe auf genügend Geld für die Anzahlung der Insel zu kommen. Leider hatte es von Beginn an nur Absagen gegeben, weshalb sie ihre Kreditwünsche bei den folgenden Banken entsprechend hatte erhöhen müssen. Mittlerweile war der geforderte Betrag astronomisch, das war auch Dalong klar. Dennoch wollte sie nichts unversucht lassen. Die Hausbank ihres Großvaters hatte sie sich bewusst für den Schluss aufgehoben, weil die Chancen hier am größten waren, den fehlenden Rest zu bekommen. Dass sie sich am Ende gezwungen sah, alles von einer einzigen Bank zu erbitten, war ein schwerer Schlag.
Die Wolken über Hongkong hatten sich verdichtet. Mittlerweile prasselte schwerer Regen gegen die Glasfassade des Büros. Es war aber kein monotones Geräusch. Weil die Windböen immer wieder aus unterschiedlichen Richtungen kamen, hörte es sich an, als würde eine Vielzahl Finger ungeduldig um Einlass trommeln.
„...ich aber beim besten Willen nichts tun“, beendete der Banker seinen Monolog.
„Ich will auch gar nicht verlangen, dass Sie für mich eine Ausnahme machen“, sagte eine entmutigte Dalong. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der über die Schulter nach vorn hing und fast bis in den Schoß reichte. Trotz ihres bunten Sommerkleides war sie ein trauriger Anblick. „Es ist nur so, dass ich sonst keinen Ausweg sehe. Wenn Sie mir das Geld nicht borgen, ist alles, wofür mein Großvater sein Leben lang gearbeitet hat, verloren. Ich habe sonst niemanden mehr, den ich um Hilfe bitten könnte. Meine ganze Familie ist...“ Ihre Worte gerieten ins Stocken.
„Ich weiß“, antwortete der Banker betroffen. „Glauben Sie mir, Ms. Tang... Dalong. Wenn ich die Möglichkeit hätte, Ihnen zu helfen, würde ich es tun. Aber diese Summe ist viel zu groß, um sie mit einem Stück Fels im Meer abzusichern. Sie werden auch in ganz China keine Bank finden, die Ihnen einen solchen Kredit gewährt. Das wäre außerhalb jedes gesetzlichen Rahmens.“
„Ich verstehe“, murmelte Dalong mit hängendem Kopf. Sie wusste nur zu gut, wie recht der Bankvorstand hatte. „Ich hatte nur gedacht, weil Sie selbst gesehen haben, wie sehr mein Großvater...“
„Ich kann Ihnen nicht helfen, Dalong. Wirklich nicht.“
Sie nickte und stand auf.
Es ließ ihn nicht kalt, die junge Frau so verzweifelt zu sehen, und sie dennoch wegschicken zu müssen. „Der einzige Weg, wie Sie an eine solche Summe kommen könnten...“ Er holte tief Luft und biss sich auf die Zunge.
„Ja?“
„Ich... Bitte verstehen Sie mich richtig“, überwand er sich, seinen Gedanken doch noch zu Ende zu sprechen. „Ich will Ihnen diese Möglichkeit keinesfalls empfehlen, ganz im Gegenteil. Ich muss Ihnen sogar dringend davon abraten... Aber gesetzt den Fall, Ihr Leben hinge davon ab, dass Sie an das Geld kommen, dann gäbe es da noch diese eine Möglichkeit.“
„Welche Möglichkeit?“, drängte Dalong.
„Bitte überlegen Sie sich gut, was Sie damit machen.“ Er löste einen Zettel von einem quadratischen Papierblock und kritzelte ein paar Zeichen darauf. „Mit diesen Leuten in Kontakt zu treten, ist mit Sicherheit die schlechteste Wahl, die Sie treffen können.“
***
Kowloon, Sonderverwaltungszone Hongkong, Abend:
Chen war nur einer von über zwei Millionen Chinesen, die auf der Halbinsel lebten. Seine Wohnung lag im sechsundzwanzigsten Stock eines Neubaus und bot Blick auf die unverwechselbare Skyline der Insel Hongkong. Chen hatte Feierabend, doch auch das hob ihn kaum von der Masse ab. Der entscheidende Unterschied zum Durchschnittsbürger waren die drei Männer, die ihn in seiner Wohnung erwartet und gefesselt hatten.
Viel Vorbereitung war nicht nötig gewesen, um das vertraute Gefühl der eigenen vier Wände nachhaltig zu zerstören: Der penetrante Geruch eines fremden Gewürzes lag in der Luft, die Jalousien waren heruntergelassen, und aus den Lautsprechern drang Meeresrauschen von einem USB-Stick. Ohne den Lichtschimmer aus dem offenstehenden Kühlschrank wäre es stockdunkel gewesen.
Der kleinste und stämmigste der drei Männer kam direkt zur Sache. „Sie wollen uns doch nicht bestehlen?“
„Nein... Nein bestimmt nicht“, stotterte Chen. Die falsche Antwort, wie seine linke Wange schmerzhaft zu spüren bekam.
„Lügen Sie mich an?“ Das Gesicht des Fremden war unnatürlich breit, und seine Zähne standen weiter aus dem Zahnfleisch, als es gesund sein konnte. Im fahlen Licht erinnerte die Kopfform entfernt an einen Hamster. „Sie haben Geld bekommen, jetzt wollen wir es zurück!“
Wenn diese Leute den Auftrag hatten, Chen in Todesangst zu versetzen, dann machten sie ihren Job vorbildlich. Dass sie zu dritt waren, wusste er nur, weil die anderen beiden ihn überwältigt und gefesselt hatten. Seither hielten sie sich im Hintergrund, wo Chen sie nicht sehen konnte.
„Ich habe kein... Geld von Ihnen. Ich kenne Sie doch gar nicht. Ich habe Sie noch nie gesehen, das schwöre ich!“
Wieder gab es eine schlagkräftige Antwort, diesmal auf die andere Wange. „Dann wird es Zeit, dass ich mich Ihnen vorstelle, nicht wahr?“
Chen schnappte nach Luft. Der Schlag hatte die Oberlippe aufplatzen lassen. „Schickt... Schickt Mr. Wu Sie her?“
„Ich bin Wu, und ich möchte die 1.600.000 Yuan zurück, die Sie von uns bekommen haben.“
„Sie... sind Wu?“ Der Rest an Hoffnung verpuffte. Dass Wu sich die Mühe gemacht hatte, persönlich hierher zu kommen, konnte nur das Schlimmste bedeuten.
„Wo ist das Geld?“
„Es ist... Ich habe es...“ Chen wagte es nicht, das Falsche zu sagen. Dummerweise schien es keine richtige Antwort zu geben. „Ich habe... Ich war...“
„Wo ist das Geld?“ So gedehnt, wie Wu die Frage diesmal stellte, war es höchst unwahrscheinlich, dass er sie ein weiteres Mal wiederholen würde.
„Ich-ich habe...“ Chen zitterte, während er versuchte, die unheilbringende Wahrheit zurückzuhalten.
„Wissen Sie, ich bin ein sehr geduldiger Mann, wirklich.“ Wu beugte sich vor, bis Chen den Atem im Gesicht spürte. Der penetrante Gewürzgeruch erreichte seinen Höhepunkt. „Aber die Triade teilt meine Geduld... nicht!“ Mit dem letzten Wort schleuderte er eine Porzellanvase quer durch den Raum, die an einem Wandregal zerschellte und den Inhalt zweier Fächer ins Jenseits beförderte.
„Weg!“, brach es aus Chen heraus. „Das Geld ist weg. Ich hab‘s verspielt.“
„Verspielt?“ Wu packte ihn an der Gurgel und drückte zu. Im Augenwinkel beobachtete er, wie einer seiner beiden Männer etwas aufhob, das vom Regal gefallen war.
„Was hast du da?“, knurrte Wu und streckte den freien Arm danach aus.
Das eingerahmte Foto zeigte Chen und ein junges Mädchen. Das Glas war zersprungen. Wu lockerte den Griff und hielt seinem Opfer die Aufnahme vors Gesicht. „Tochter?“
Schwaches Nicken.
„Kompliment, ein schönes Kind.“ Wu löste eine lange Scherbe aus dem Rahmen und ließ den Rest fallen. „Mehr Hintergrund!“, befahl er einem seiner Männer.
Gleich darauf wurde ein Lautstärkeregler nach rechts gedreht, und das Meeresrauschen nahm zu.
„Was...?“ Die Frage endete in einem Aufschrei, als sich die Scherbe tief in Chens Oberschenkel bohrte.
Wu hatte eine ganz spezielle Technik erlernt, mit der es ihm möglich war, die maximale Bewegungsenergie auf kleine Objekte zu übertragen. Ein Fingerschnippen von ihm reichte, um eine Glasscherbe tief ins Fleisch zu treiben, und mit etwas Konzentration konnte er sogar eine Nähnadel durch eine Glasscheibe schießen.
„Schon fast wieder vorbei“, sagte Wu und packte die Scherbe zwischen Daumen und Zeigefinger. Aber statt sie auf kürzestem Weg wieder herauszuziehen, entschied er sich für einen schrägen Schnitt. Dabei nutzte er das Glas wie ein Messer und vergrößerte die Wunde um ein Vielfaches.
Chen brüllte gegen die digitale Meeresbrandung an, während sich seine Hose entlang der Schnittkante dunkelrot färbte.
Wu wartete, bis das Schmerzgebrüll in Winseln überging, und deutete seinem Handlanger, das Hintergrundrauschen wieder zu dämpfen. Als das Meer wieder verebbte, erklärte er: „Das war Ihre Bestrafung dafür, dass Sie unser Geld verspielt haben. Es ist nur eine Fleischwunde - etwas schmerzhaft, aber nichts, was Sie davon abhalten wird, das Geld zu beschaffen.“
„Sie kriegen das Geld!“, beeilte Chen sich zu beteuern. Tränen bahnten sich den Weg durch sein Gesicht. „Ich schwöre Ihnen, dass ich alles zurückzahlen werde.“
„Ich weiß“, entgegnete Wu unbeeindruckt. „Ich verwette sogar das Leben Ihrer Tochter, dass Sie uns alles zurückzahlen werden. Wie alt ist sie? Acht? Oder doch schon...?“
„Meine Tochter hat nichts damit zu tun! Ich schulde Ihnen das Geld. Nur ich! Ich bin es, den Sie...“ Er schrie auf, als sein Kopf unerwartet zurückgerissen wurde.
Es war einer der beiden Männer aus dem Abseits, der Chen an den Haaren gepackt hatte. „Halt gefälligst den Mund, wenn der Boss mit dir spricht! Wenn du ihn noch einmal unterbrichst, schneide ich dir deine Zunge in Streifen.“
Wu schickte ein anerkennendes Kopfnicken in Richtung seines Handlangers, ehe er sich wieder dem Gefesselten zuwandte: „Sie bringen Schande über sich und Ihre ganze Familie. Das ist so beschämend für alle.“
Diesmal ließ Chen fast drei Sekunden vergehen, bevor er sich antworten traute. „Ich besorge Ihnen das Geld, Mr. Wu. Bitte glauben Sie mir.“
„Sie hoffen bestimmt, dass Sie mich mit Ihren Beteuerungen überzeugen, nicht wahr? Die meisten, die uns Geld schulden, glauben das jedenfalls, weil ihnen die Erfahrung in solchen Dingen fehlt. Dabei ist es so gut wie immer dasselbe, egal wen es erwischt. Sie glauben gar nicht, wie einem das Blaue vom Himmel versprochen wird, nur weil man jemanden ein paar Minuten vom Balkon hängen lässt. Aber kaum hat er wieder festen Boden unter den Füßen, geht es nicht mehr um unser Geld, sondern nur noch ums eigene Leben. Da hilft es auch nichts, wenn ich dazusage, dass es keinen Sinn hat, vor uns davonzulaufen, die Leute versuchen es trotzdem.“
„Ich... Ich laufe nicht davon. Bestimmt nicht, Mr. Wu!“
„Ich weiß, denn ich kenne mein Geschäft und weiß, wie ich die Leute motivieren kann. Wie viel von dem Geld ist noch da?“
„Alles was ich noch habe, ist dort drüben im Schrank.“ Er deutete mit dem Kopf in die Richtung. „Oberstes Fach, ganz rechts unter dem Buch.“
„Schau nach!“, befahl Wu seinem Begleiter.
Eine angespannte Minute verstrich, bis das Geld gefunden und gezählt war: „500.000.“
„Das... da muss noch mehr sein.“
„Genau 500.000!“, wiederholte die Stimme aus dem Off.
„Der Rest ist schon abgezogen. Für die Unannehmlichkeiten, die Sie uns bereiten“, erklärte Wu.
„Aber ich...“
„Still!“, unterbrach Wu. „Sie schulden uns noch 1.100.000 Yuan. Wir geben Ihnen zwei Monate Zeit, das Geld zu beschaffen, das macht dann also 1.300.000 inklusive Zinsen.“ Er nickte seinem zweiten Mann zu, der daraufhin den Raum verließ.
„Es ist wichtig, dass Sie mir jetzt ganz genau zuhören.“ Wu packte Chen beim Kinn und zwang ihn zum direkten Blickkontakt. „Sie werden das Meiste von all dem, was gleich passiert, vergessen wollen. Das ist völlig okay für mich, solange Sie sich hinterher noch an das Wesentliche erinnern: In zwei Monaten zahlen Sie uns 1.300.000 Yuan. Nur das müssen Sie sich merken. Denken Sie, Sie schaffen das?“
„Ja... Aber Sie...“
Wu drückte blitzartig seine Finger zusammen, wodurch Chens Wangen zwischen die geöffneten Kiefer gequetscht wurden. „Ein einfaches Ja reicht mir völlig.“
Chen gurgelte einen unverständlichen Laut hervor, während der Geschmack von Blut seinen Mund füllte.
„Ich werte das zu Ihren Gunsten.“ Wu lockerte seinen Griff.
Im Nebenzimmer fegte ein mit einem Drachen tätowierter Unterarm über den Schreibtisch. Das meiste Büromaterial landete weitgehend unbeschadet auf dem Boden. Es folgten mehrere Bücher und Zeitschriften aus einem Wandregal, dann fiel ein Stuhl um. Nur einen halben Meter weiter stürzten eine Lampe und ein kleines Terrarium ins Verderben. Beim Verlassen des Raums bemerkte der Tätowierte eine Flagge und riss sie von der Wand.
„Wie wäre es damit?“ Er kehrte zurück zu den anderen und hielt den roten Flaggenstoff mit aufgedruckter weißer Blüte wie ein Handtuch vor der Brust.
„Das ist gut“, stellte Wu fest. „Das hat sogar eine gewisse Symbolik.“
Der Tätowierte nickte und legte sein Mitbringsel griffbereit ab. Als nächstes musste er Eiswürfel oder ähnliches aus dem Gefrierfach holen. Im Grunde war der Ablauf jedes Mal derselbe, Raum für Innovation gab es bei dem Job kaum - auch wenn der Wunsch, etwas Neues auszuprobieren, bei den Jüngeren immer wieder durchkam.
Wu zeigte dafür kein Verständnis. Er hatte über die Jahre ein Gespür dafür entwickelt, was er den Leuten zumuten konnte, ohne sie zu verlieren. Für ihn stand nicht die Originalität seiner Methode im Vordergrund, sondern nur das Ergebnis. Nichts anderes zählte, wenn man für die Triade arbeitete und am Leben bleiben wollte.
In Chens Gefrierfach fand der Tätowierte zwar keine Eiswürfel, dafür aber zwei Packungen gefrorenes Tomatenmark. Damit war das Maximum an Abwechslung bei der Arbeit schon fast erreicht. Fehlte nur noch ein passendes Gefäß.
„Es dauert nicht lange“, erklärte Wu und bereitete sein Opfer auf die unmittelbar bevorstehende Tortur vor, „auch wenn es Ihnen wie eine Ewigkeit vorkommen wird. Das Beste ist, Sie konzentrieren sich nur auf das Ergebnis und verinnerlichen die Wichtigkeit dessen, worum es bei all dem geht: Sie beschaffen uns die 1.300.000 Yuan, dann kommt für Sie alles wieder in Ordnung.“
„Bitte tun Sie das nicht“, flehte ein völlig verängstigter Chen. „Sie bekommen Ihr Geld, Mr. Wu! Ich schwöre Ihnen, dass ich Ihnen das Geld...“
„Genug jetzt!“ Wu hatte die Flagge zur Hilfe genommen, um sein Gegenüber zum Schweigen zu bringen. „Noch ein gutgemeinter Rat: Versuchen Sie nicht, die Luft anzuhalten, das macht alles nur noch schlimmer für Sie.“
***