Sibirien, gegen Ende des 19. Jahrhunderts:
Sie lauerten unter der Oberfläche. Ihr genaues Alter kannte niemand, aber im Norden erzählte man sich, dass sie so alt waren wie die Erde selbst. Wenn ihre gewaltigen Körper durch den Boden brachen, erzitterte die Taiga. Einen Erwachsenen konnten sie in einem Stück verschlingen.
In den sibirischen Weiten gab es hunderte von ihnen. Tausende. Vermutlich gab es sogar noch viel mehr. In manchen Nächten, wenn der Wind vom Fluss in Richtung Dorf wehte, konnte der junge Rustam sie hören - nur hören. Sie mieden das Licht und bewegten sich in meterhohen Tunneln fort, die sie durch die Erde trieben. Man hörte und spürte es, wenn einer von ihnen einstürzte.
Niemand konnte sich vor ihnen sicher fühlen. Nur während der Wintermonate, wenn der Boden zu Stein gefroren war, schafften sie es nicht bis an die Oberfläche. Wenn aber der Boden im Frühling zu tauen begann, und sich die Taiga in eine Schlammlandschaft verwandelte, gab es für die Kreaturen der Nacht kein Halten mehr. Getrieben vom Hunger und ihrer Gier nach Fleisch drängten sie nach oben, was oft ihren sicheren Tod bedeutete. Kilometerweit überzogen ihre Kadaver im Frühsommer das Land, während der Wind den Verwesungsgestank bis in die entlegensten Winkel des Kaiserreichs verteilte.
Ein totes Exemplar zu Gesicht zu bekommen, war nicht schwer. Sowohl das Licht der Sonne als auch der Schein des Mondes waren binnen weniger Minuten tödlich für die Kreaturen.
Beobachten und erzählen zu dürfen, wie einer ihrer mächtigen Schädel auf der Suche nach Futter durch die Erde brach, war dagegen ein extrem seltenes Privileg. Rustam kannte nur einen einzigen Menschen, der je ein lebendes Exemplar gesehen und diese Sichtung überlebt hatte.
Sein Großvater war damals ein enormes Risiko eingegangen, denn jeder wusste, wie ausgehungert die Kreaturen nach dem Winter waren. Während sie in ihren Erdhöhlen auf Beute lauerten, reichte ein falscher Tritt, und aus ihren Fangzähnen gab es kein Entkommen mehr. Die Zähne ausgewachsener Exemplare waren so lang, dass sie damit ein Dutzend Männer auf einmal aufspießen konnten. Laut Rustams Großvater war das auch tatsächlich schon passiert. Bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit hatte er seinen Enkel davor gewarnt, das Land jenseits des Flusses zu betreten, nachdem das Tauwetter eingesetzt hatte.
Der gewundene Fluss bildete eine natürliche Grenze zwischen Rustams Dorf und dem verbotenen Land. Die Kreaturen saßen seit Jahrtausenden gegen ihren Willen dort fest. Aber eines nicht so fernen Tages, so erzählte die Legende, würden sie zurückkommen, um erneut über die Erde zu herrschen - nicht mit, sondern anstelle der Menschen.
Im Winter, wenn der Fluss zugefroren war, hielt eine meterdicke Eisschicht die Kreaturen im Boden gefangen. Im Frühling, wenn das Eis schmolz, ließen die Wassermassen den Fluss anschwellen und machten es unmöglich, auf die andere Seite zu gelangen.
Maa schützt uns vor ihnen, vergiss das nie, hatte sein Großvater ihm eingebläut. Maa, die Mutter Erde. Sie allein verhinderte, dass die Kreaturen über das Dorf und den Rest der Welt herfielen, aber sie würde es nicht ewig tun. Sein Großvater war einer der letzten Männer im Dorf gewesen, die die Traditionen und die alte Sprache aktiv am Leben gehalten hatten. Nach seinem Tod vor zwei Jahren hatte sich vieles verändert - wenig davon zum Besseren. Der Ausbau der transsibirischen Eisenbahn wurde vorangetrieben und nährte die Hoffnung, dass das Dorf eines Tages Teil der modernen Welt werden würde. Alles nur Lügen, hatte sein Großvater stets beteuert. Falls überhaupt, so würde die Eisenbahn etliche hundert, wenn nicht tausend Kilometer weiter im Süden verlaufen.
Mittlerweile war es Rustam egal, was mit seinem Dorf passierte. Er hatte den Entschluss gefasst, seine Heimat so bald wie möglich zu verlassen. Nach dem Tod seines Großvaters gab es ohnehin nichts mehr, was ihn noch hielt. Mit Ausnahme von Dascha, in die er schon verliebt war, solange er denken konnte.
Dascha, das Mädchen mit der bernsteinfarbenen Haut und dem dunklen Strubbelhaar. Sie war herzlich, witzig und ein ganzes Stück schlauer als Rustam. Es war ihm sehr wichtig, dass sie ihn an jenem Abend begleitete. Wenn es einen Weg gab, Dascha davon zu überzeugen, endlich gemeinsam von hier wegzugehen, dann führte er über den Fluss - ins verbotene Land.
Ebenso wie Rustam kannte auch Dascha die Geschichten, die man über die Kreaturen erzählte. Oft waren sie gemeinsam mit Rustams Großvater am Feuer gesessen und hatten seiner rauchigen Stimme gelauscht: Sie kommen nur aus einem einzigen Grund nach oben - um zu fressen! Diesen Satz würden sie nie vergessen.
An ungezählten Abenden hatten Dascha und Rustam sich über die Gefahren unterhalten, hatten einander Mut gemacht, und waren letztlich doch jedesmal erleichtert gewesen, wenn ihre Vernunft gesiegt hatte. An diesem Abend nicht.
Sie holen sich die Kinder, die am Fluss spielen. Auch einer dieser Sätze, die sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt hatten. Sie schlagen ihre riesigen, gekrümmten Zähne in die Opfer und reißen sie mit sich in die Tiefe. Alles geht so schnell, dass man die Kinder nicht einmal mehr schreien hört. Sie sind einfach weg. Ihre Spuren enden im Nichts, als hätte die Erde die Kinder verschluckt. Aber es war nicht Mutter Erde. Maa schützt uns vor ihnen. Es waren die Mutts!
Die Kreaturen hatten viele Namen. Rustams Großvater hatte sie stets Mutts genannt. Mutts waren gigantische Maulwurfwesen, die der Hunger aus der Erde trieb, und die in Sekundenschnelle Beute machen mussten, weil das Licht sie sonst umbrachte.
Rustam war nicht scharf auf eine direkte Begegnung. Erst recht nicht, da er bereits die Überreste einiger verwester Exemplare gesehen hatte. Ihre Knochen waren unvorstellbar riesig. Manche waren so schwer, dass man mehrere Leute brauchte, um sie tragen zu können. Großvater hatte ihm einmal erzählt, dass ein Dorfältester aus dem Osten eine Hütte aus Muttknochen hatte bauen lassen. Ein anderer hatte einen Schädelknochen mit Fell und Leder bespannt und nutzte ihn als Zelt. In den abgelegenen Dörfern Sibiriens erzählte man sich eine Menge Geschichten über die Mutts. Keine einzige empfahl die Begegnung mit diesen menschenfressenden Bestien.
„Ich glaube, ich höre schon den Fluss rauschen“, sagte Dascha.
„Mhm“, brummte Rustam und ließ sich nicht anmerken, wie schwer es mittlerweile war, in dem schlammigen Boden eine brauchbare Spur für Dascha auszutreten.
Die Sonne war am Untergehen und die Temperatur fiel merklich ab.
„Bleib dicht hinter mir!“
„Natürlich, Rustam. Schließlich hast du das Messer.“
Das Messer! Gegen einen Mutt? Gegen ein ganzes Rudel von ihnen? Am liebsten hätte Rustam laut aufgelacht. Das Messer war ein Geschenk seines Großvaters gewesen - eigentlich ein Vermächtnis. Rustam war sehr stolz darauf, schließlich war er der Jüngste im Dorf, der ein eigenes Messer besaß. Die Klingenspitze war zwar abgebrochen, aber es war sehr scharf und hatte einen Knochengriff - angeblich ein Stück Muttknochen. Auch wenn Rustam daran seine Zweifel hatte, war das Messer etwas ganz Besonderes. Trotzdem würde es ihm im Kampf gegen einen hungrigen Mutt wenig helfen.
Ein Mutt konnte so groß werden wie vier übereinander stehende Männer, so viel wiegen wie hundert Menschen, und trotzdem konnte er blitzschnell zupacken und einen in die Tiefe reißen. Mutts waren die perfekten Killer. Sie fürchteten nichts und niemanden. Nur das Licht. Angeblich trockneten Sonne und Mond das ansonsten ständig feuchte Fell der Mutts aus, wodurch die darunterliegende Haut Risse bekam und aufplatzte.
Ja, sein Großvater hatte das Wort aufplatzen verwendet. Ein unglaublicher Anblick, der mit nichts vergleichbar sei. Ich war vor Schreck wie gelähmt, als der Mutt plötzlich vor mir stand. Er war offensichtlich schon sehr geschwächt von der Sonne. Aber hätte das Licht ihn nicht...
Rustam hatte das Messer aus der Fellscheide an seinem Ledergürtel gezogen und hielt es beim Gehen mit angewinkeltem Arm. „Nur zur Sicherheit“, sagte er, als hätte es einer Erklärung bedurft.
„Vom Kämpfen war aber nicht Rede“, zeigte Dascha sich sogleich besorgt. „Wir wollen nur einen Blick auf den Mutt werfen. Aus der Ferne!“
„Ich weiß.“ Rustam bog bei jedem Schritt die Zehen nach oben, um zu verhindern, dass der Schlamm ihm die Stiefel von den Füßen zog. „Aber ich muss trotzdem vorbereitet sein. Nur für alle Fälle.“ Ein Teil von ihm wusste, wie nutzlos das Messer gegen einen Mutt sein würde. Andererseits bedeutete es zumindest ein wenig Hoffnung. Gerade genug, um sich daran klammern zu können.
„Das Wasser sieht ganz schön tief aus“, stellte Dascha fest, als sie vor dem Fluss stoppten. Der letzte Rest an Sonne spiegelte sich zwischen den beigebraunen Wellen.
„Ist es aber nicht.“ Rustam klang überzeugter als er war. Erst in der vergangenen Woche hatte sein Vorhaben so weit Gestalt angenommen, um von einem konkreten Plan sprechen zu können. Die bevorstehende Nacht erschien dem Jungen perfekt, ihn umzusetzen.
Dascha und er würden das Niedrigwasser nutzen, um den Fluss zu durchqueren. Kurz nach Sonnenuntergang wollten sie die andere Seite erreichen - das verbotene Land. Muttland. Der Himmel war leicht bewölkt und würde nur einen Teil des Mondlichts durchlassen. Genug, um den Mutt aus der Ferne sehen zu können, aber nicht so viel, um ihn auf der Stelle auszutrocknen und zu töten. Ein lebender Mutt war ihre Fahrkarte in ein neues Leben. Ein kurzer Blick würde alles verändern, würde das Versprechen einlösen, das Dascha und Rustam seinem Großvater am Sterbebett gegeben hatten: Ihre Heimat erst zu verlassen, wenn sie einen lebenden Mutt mit eigenen Augen gesehen hatten. Der Mutt würde das Zeichen von Maa, der Mutter Erde, sein, dass sie bereit war, ihre Kinder ziehen zu lassen.
Was Dascha und Rustam weder wussten noch ahnten, war, dass sein Großvater ihnen dieses Versprechen abgenommen hatte, weil er sicher war, dass es nie ein Mutt lebend bis ins Dorf schaffen würde. Für ihn war es undenkbar gewesen, dass Maa eines Tages die Kinder vom Land seiner Ahnen verjagte, indem sie die Mutts auf das Dorf hetzte. Sollten die Mutts je aus ihrer Verbannung zurückkommen, wäre das Schicksal der Menschen damit besiegelt. Doch Maa würde das niemals zulassen, war der Großvater stets überzeugt gewesen. Das Dorf würde für alle Zeiten sicher sein. So wie die Kinder, solange sie es nicht verließen.
„Hier können wir es versuchen.“ Rustam hatte eine Stelle zum Überqueren des Flusses gefunden. Schon der erste Schritt war ein eisiger Vorgeschmack auf das, was ihn erwartete, wenn das Wasser in der Flussmitte seine Oberschenkel umspülen würde. „Gib mir deine Hand!“ Er streckte Dascha seine Rechte hin und hielt das Messer fest umklammert in der Linken.
„Ich weißt nicht...“
Mit einem kräftigen Ruck beendete er ihr Zögern und zwang sie zum nächsten Schritt. Dascha blieb gar keine andere Wahl, als ihm quer durch den Fluss zu folgen. Rustam hielt sich nicht mit Pausen auf, auch wenn Daschas Rufe genau danach verlangten. Für ihn war klar, dass sie es nur zügig durch den Fluss schaffen würden - oder gar nicht. Sollte die Kälte erst ihre Beine lähmen, würde es nur noch schwerer werden, das andere Ufer zu erreichen.
Zehn Schritte bis zur Flussmitte. So hatte Rustam die Lage im Vorfeld eingeschätzt. Vierzehn Schritte waren es bereits, doch die Strömung drückte ihn jedesmal flussabwärts, wenn er eines seiner Beine nach vorn setzen wollte. Statt den Fluss wie geplant auf kürzestem Weg im rechten Winkel zu durchqueren, flachte die gedachte Linie immer weiter ab.
„Die Strömung reißt mir die Füße weg!“ Dascha hielt seine Hand fest umklammert. „Wir sollten umdrehen. Rustam?“
„Wir sind gleich in der Mitte.“
„Es wird immer tiefer.“ Tatsächlich ging ihr das Wasser bereits bis zum Bauchnabel.
„Reiß dich zusammen. Das ist nur ein blöder Fluss. Der wird uns nicht aufhalten.“ Demonstrativ stemmte er sich gegen die Strömung und zog seine Freundin hinter sich her. „Mach schon, wir haben es gleich geschafft.“
Hätte Dascha eine Wahl gehabt, sie wäre umgekehrt.
„Dascha, bitte! Es geht nur, wenn du mithilfst.“
„Ich gebe mir Mühe. Aber meine Beine finden kaum noch Halt.“
Sie hatten etwa die Mitte des Flusses erreicht, als Dascha von der Strömung etwas gegen den Unterschenkel geschleudert bekam. Mitten im Schritt riss es ihr das Standbein weg. „Hilf...!“
Rustam reagierte blitzschnell und beugte sich vor, um sein Gewicht zu verlagern. Dascha, deren Hand er fest umklammert hielt, wurde von den Wassermassen erfasst und in die Strömung gedreht. Rustams Arm folgte ihrer Bewegung bis an die Belastungsgrenze seines Schultergelenks. Einen schmerzverzerrten Aufschrei und zwei abgehackte Atemzüge später fand er seine Worte wieder: „Du musst versuchen, mit den Beinen den Boden zu erwischen! Such dir Halt!“
Sie wollte ihm antworten, bekam aber sofort eine Ladung Flusswasser in den Mund.
„Dascha! Bitte! Du wirst mir zu schwer.“
Schmerzvolle Sekunden verstrichen, bis der Zug an Rustams Schulter endlich nachließ.
„Ich habe... wieder Boden...“, spuckte sie Worte und Wasser in den Fluss.
„Dann los!“ Noch zielstrebiger als zuvor steuerte Rustam mit seiner Freundin im Schlepptau das Ufer an. Es war sehr hilfreich, dass Wassertiefe und Strömung mit jedem Schritt nachließen.
Den Großteil ihrer Kraftreserven hatten sie aufgebraucht, als sie auf der anderen Seite ankamen. Das Ufer war auf dieser Seite deutlich steiler und bildete lehmige Überhänge, die stellenweise abzubrechen drohten. Rustam schätzte die Lage sofort richtig ein. „Wir müssen da rauf!“
„Das war eine dumme Idee!“ Dascha ließ sich in einen schlammigen Streifen unter einem der Überhänge fallen.
„Da rauf!“, wurde Rustam deutlicher.
„Ich brauche eine Pause. Nur kurz.“
„Oben!“ Rustam riss seine Freundin hoch und stapfte mit ihr auf den lehmigen Steilhang zu. „Los jetzt!“
Der kurze Kletterabschnitt kam Dascha noch anstrengender vor als die Flussüberquerung. Bei jedem Schritt sanken sie bis über die Knie in den angetauten Boden ein. Die Beine nach jedem Tritt wieder aus dem Morast zu ziehen, war ein unvergleichlicher Kraftakt.
„Nur noch ein Stück!“ Rustam hatte die Kante der Steilwand erreicht und hievte Dascha mit letzter Kraft nach oben.
„Danke“, stieß sie hervor und fiel zitternd zu Boden. Die Kälte des Flusses hatten sie beide unterschätzt.
Rustam war zu sehr mit seinem Oberschenkel beschäftigt, um sich die neue Umgebung genauer anzusehen.
„Was ist passiert?“, fragte Dascha, als sie seine Wunde bemerkte.
„Nichts.“ Er ärgerte sich über sich selbst. „Ist nur ein kleiner Schnitt vom Messer.“ Er winkte ihr mit der Klinge zu, bevor er sie dahin steckte, wo sie sich besser schon vor Betreten des Flusses befunden hätte.
„Um Himmels willen!“ Dascha rappelte sich auf und beugte sich über sein verletztes Bein.
„Es ist nichts“, schob er sie sanft aber sehr bestimmt zur Seite. „Ich sag dir doch, es ist nur ein Kratzer.“
„Rustam...“ Ihre Stimme hatte einen völlig neuen Tonfall angenommen - keinen guten. „Das ist Blut.“
„Ja, ich weiß“, reagierte er gereizt. Aus seiner Jacke holte er einen Lederlappen, in den er kleine getrocknete Fleischstücke als Proviant eingewickelt hatte. Mit wenigen Handgriffen machte er daraus einen Verband für sein Bein. „Siehst du? Alles wieder in Ordnung.“
Als er zu ihr blickte, spiegelte sich das schwache Abendrot in ihren Augen. Er wusste sofort, dass nichts in Ordnung war - gar nichts.
„Dein Blut...“, stammelte sie und zwang seine Aufmerksamkeit auf ihre ausgestreckte Hand.
Sein Blick folgte ihrem Zeigefinger bis zu jenem dunklen Fleck, der sich links neben seinem Bein gebildet hatte. Gierig schien der Schlamm den Lebenssaft aufzusaugen.
„Glaubst du...?“ Sie hauchte ihre Worte, als hätte sie Angst, dass jemand sie hörte - oder etwas. „...sie können... es riechen?“
Nun begriff auch Rustam in welche Lage er sich und seine Freundin gebracht hatte. Er wusste nicht mit Sicherheit, ob die Mutts sein Blut tatsächlich auf große Entfernung riechen konnten. Aber wenn sie im Aufspüren von Beute nur halb so gut waren, wie sein Großvater berichtet hatte, glich es Selbstmord, eine einzige Sekunde länger auf dieser Seite des Flusses zu verharren. „Wir müssen sofort hier weg!“
Dascha stand das nackte Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als sie den Finger auf die Lippen presste und ihren Kopf so vorsichtig schüttelte, als müsste sie gegen eine Lähmung ankämpfen.
Jetzt hörte Rustam die Mutts auch. Schlimmer noch, er spürte sie - genau unter sich.
***
Sibirien, über hundert Jahre später:
Beißender Verwesungsgeruch lag in der Luft. Der Dorfälteste war der Erste, der ihn bemerkte, denn er stand so gut wie immer vor den anderen auf. Dachte er.
Als er das Türfell seines Zeltes aufklappte, schlug ihm der Gestank ungefiltert entgegen. Ein pelziges Kratzen kroch bis tief in die Lungenflügel. Der Älteste umschloss den Anhänger seiner Knochenkette mit der Faust und murmelte etwas von einem Fluch.
Noch war von den anderen Dorfbewohnern keiner zu sehen. Vorahnung und Sorge legten das alte Gesicht in Falten. Es war also wieder einmal soweit. Diesmal sogar zwei Wochen früher als üblich. Die Winter wurden von Jahr zu Jahr kürzer, genau wie er es vorhergesagt hatte. Mit der Abkehr von den alten Werten und Traditionen gab es nichts mehr, was die Dorfbewohner dem Fluch entgegenzusetzen hatten.
Als er noch ein Kind gewesen war, hatten sie alle dem Land und seinen Toten Respekt gezollt. Auch damals war es vorgekommen, dass der Boden im Sommer stellenweise taute, und Maa die Kadaver der Mutts freigab. Maa, Mutt - keiner verwendete die Begriffe noch in ihrer ursprünglichen Form. Keiner machte sich heute noch die Mühe, die verwesenden Karkassen wieder zu vergraben, wenn sie aus der Erde ragten. Die Rituale von früher gerieten zunehmend in Vergessenheit und eines Tages würden sie mit ihm aussterben. Gott behüte! Bis dahin sah er es jedoch als seine heilige Pflicht an, Maa die Mutts wieder zurückzugeben, die es bis an die Oberfläche geschafft hatten. Es war das Mindeste, was die Menschen für Maa tun konnten.
So wie es roch, ragten in diesem Jahr mehr tote Mutts aus dem Boden als je zuvor. Der Gestank war ein schlechtes Omen, denn wenn Jahr für Jahr mehr Mutts versuchten, an die Oberfläche zu kommen, würde es ihnen irgendwann vielleicht gelingen. Möglicherweise stand die Rückkehr der Mutts sogar schon bevor.
„Aus dem Weg, Alter!“ Fjodor, ein junger und kräftiger Mann, hatte den Dorfältesten beinahe umgerannt. Mit dem Hokuspokus der Ahnen wusste er nichts anzufangen, und Respekt hatte er vor ihnen und ihren Taten noch nie gehabt. Tradition war für ihn nur ein Mittel, mit dem ältere Generationen ihre Nachkommen zu kontrollieren versuchten. Es war ein Wissensvorsprung, eine Sammlung von Regelungen und Verhaltensweisen, die dem Alter die Macht über die Jugend gab.
Bei Fjodor hatten sie damit keinen Erfolg gehabt. Seine Hütte besaß mittlerweile sogar einen kleinen Fernseher mit Satellitenschüssel, auch wenn der Empfang wetterbedingt das halbe Jahr gestört war. Trotzdem hatte Fjodor eine Menge über die wahre Welt gelernt. Er wusste, dass Knochen nicht gleich Knochen war - manche waren ein Vermögen wert.
Vor drei Jahren hatte er heimlich einen besonders gut erhaltenen Knochen beiseite geschafft und in einer mehrere hundert Kilometer entfernten Kleinstadt zum Kauf angeboten. Einige Wochen später war er als reicher Mann zurückgekehrt - als reichster seines Dorfes.
Mit der Macht seiner Geldscheine war es ein Leichtes gewesen, das Geschrei des Ältesten zu überstimmen. Die Jungs und Männer im Dorf hatten sich fast einstimmig auf Fjodors Seite geschlagen. Den Rest von ihnen hatte der Wodka gefügig gemacht. Nur die jungen Frauen waren zunächst noch skeptisch geblieben. Sie standen seit jeher stark unter dem Einfluss der alten Dorfweiber. Fjodor und seine Freunde hatten daraufhin ein halbes Dutzend Stoßzähne freigelegt und in die Stadt geschafft. Der Schmuck, die Kleider und die Kosmetikartikel, die sie nach ihrer Rückkehr verteilten, überzeugten schließlich auch die letzten Frauen. Um den Protest des Dorfältesten zu beenden, hatten sie ihn mit Alkohol ruhiggestellt. Seit er an der Flasche hing, verschlief er den Großteil des Dorfgeschehens.
Die Region veränderte sich. Die Winter wurden milder, und das Eis zog sich zurück. Dafür sorgten nicht zuletzt die Maschinen und die unzähligen Spritkanister, die Fjodor herangeschafft hatte. Dieses Jahr, davon war er überzeugt, würden sie das ganz große Geld machen.
„Pass doch auf, du Idiot!“ Fjodor sprang zur Seite und entging nur um Haaresbreite der Dusche eines umgestoßenen Benzinkanisters.
„Hier drüben!“, rief ein Mann mit dunkler Pelzmütze und einem von Eiskristallen durchsetzten Vollbart. Die Wodkaflasche in seiner Hand war fast geleert. „Schütte hier auch etwas hin!“
Benzin war nicht billig, und sein Transport in das entlegene Dorf alles andere als einfach, aber Fjodor wusste, dass er investieren musste, um Gewinn zu machen. Höhere Investitionen bedeuteten höhere Gewinne - so einfach funktionierte der Kapitalismus. Jedenfalls war das die Meinung seiner Satellitenschüssel, und die musste es schließlich wissen.
„Was dauert denn da so lange?“, trieb Fjodor seine Leute an. Der Alkohol hatte sie ihm gefügig gemacht, aber mit der Zeit ließen ihr Arbeitswille und ihre Aufmerksamkeit merklich nach. „In zwei Stunden muss die Stelle hier eisfrei sein!“
Noch waren die Tage vergleichsweise kurz, aber das Risiko, im schlammigen Boden den Tod zu finden, wuchs zusehends. Erst im vergangenen Sommer hatten sie zwei Männer beim Einsturz einer Schlammhöhle verloren. Die Erde hatten sie vor den Augen ihrer hilflosen Freunde verschluckt. Fjodor und seine Leute kannten das Risiko nur zu gut, aber die Zeit saß ihnen im Nacken. Mittlerweile, und daran war der Alkohol nicht unschuldig, hatte man sich an Unfälle gewöhnt. Sie waren untrennbar mit Erfolg verbunden, wurde Fjodor nicht müde zu beteuern.
Anders als früher hatten sie es heute nicht auf Knochen oder Stoßzähne abgesehen. Diese waren zwar immer noch ein nettes Zubrot, konnten aber nicht mit den neuen Verdienstmöglichkeiten mithalten. Nur einem Zufall war es zu verdanken, dass Fjodor an die Koreaner geraten war. Üblicherweise suchte er nach russischen, seltener auch nach chinesischen Abnehmern für sein Elfenbein. Vor allem die Russen verstanden es, ganze Landschaften in die nicht selten meterlangen Stoßzähne zu schnitzen. Derartige Kunstwerke wechselten unter Sammlern für mittelgroße Vermögen den Besitzer. Nie wäre es Fjodor allerdings in den Sinn gekommen, seinen Abnehmern ein Stück verwestes Fleisch anzubieten. Nicht, bevor er die Koreaner kennengelernt hatte.
Das Fleisch ausgestorbener Tiere war in Korea nicht etwa eine kulinarische Delikatesse, wie Fjodor zunächst gedacht hatte, vielmehr ging es seinen neuen Kunden um wissenschaftliche Experimente. Begriffe wie DNA, Klonen und Zellteilung waren gefallen. Begriffe, die Fjodors Satellitenschüssel zwar kannte, die ihn aber nie interessiert hatten. Wissenschaft und das große Geld hatten sich immer ausgeschlossen. Zur Wahl zwischen einem von beiden gezwungen, war ihm die Entscheidung leicht gefallen. Dass es nun ausgerechnet die Wissenschaft war, die mit dicken Geldbündeln lockte, überraschte zwar, aber Geschäft war nun einmal Geschäft.
„Leer!“ Der Mann mit der dunklen Pelzmütze stellte den Kanister zwischen zwei Dutzend andere, die auf dem Anhänger eines Motorschlittens standen.
„Noch einer!“, befahl Fjodor. Er ging damit ein hohes Risiko ein, aber er musste seinem Besuch etwas bieten. Noch hatten die Männer Zweifel, ob die Koreaner es überhaupt lebend in diese Einöde schaffen würden, aber wenn, dann sollten sie für ihr Geld auch etwas geboten bekommen. Fjodor hatte auf einem Vorschuss bestanden, um die Ausgrabung finanzieren zu können. Zu seinem Erstaunen hatte sein koreanisches Gegenüber keine Miene verzogen und das Geld beim nächsten Treffen bar auf den Tisch gelegt. Da hatte Fjodor begriffen, dass er Gefahr lief, sich und seine Männer - ihren Fund - zu billig zu verkaufen. Diesmal würde es anders laufen. Die Koreaner kamen in sein Dorf. Hier bestimmte ganz allein Fjodor, wie die Geschäfte abgewickelt wurden, auch wenn offiziell noch immer der Dorfälteste das Sagen hatte. Es war besser, den alten Spinner in diesem Glauben zu lassen. Lange würde es ohnehin nicht dauern, bis sie dem Dorf und seinen vertrottelten Traditionen den Rücken kehren würden. Die Zeichen standen auf Fortschritt, und der würde mit Sicherheit nicht hier stattfinden.
„Das war der Letzte!“, tönte es zwischen Pelzmütze und Vollbart hervor. Scheppernd fand der geleerte Benzinkanister seinen Platz auf dem Anhänger.
Fjodor nickte dem Fahrer zu, der daraufhin den Motorschlitten startete. Beim dritten Versuch sprang der Motor an, hustete eine blauschwarze Wolke über den eisigen Untergrund und setzte den Schlitten in Bewegung.
Es war erstaunlich, wie rasch der Frost den Boden zurückeroberte, kaum dass sich eine Wolke vor die Sonne schob. Fjodor musste den richtigen Zeitpunkt erwischen, um das Benzin in Brand zu setzen. Sollten die Flammen zu früh herunterbrennen, würde das geschmolzene Wasser im Boden neuerlich gefrieren und die ganze Vorbereitung zunichte machen. Umgekehrt wusste er nicht, wie die Koreaner reagieren würden, wenn sie Zeugen davon wurden, wie man ihren kostbaren Fund beim Auftauen flambierte.
Einen transportfähigen Block hatte Fjodor seinen Geschäftspartnern versprochen - ein zugegebenermaßen sehr dehnbarer Begriff. Dennoch wäre es schwer, mit der Transportfähigkeit eines Eisblocks von mehreren hundert Quadratkilometern zu argumentieren.
Fjodor hatte ein Dutzend Männer im Einsatz, von denen die meisten Löcher und Spalten im Abstand von zwanzig Zentimetern in den Boden getrieben hatten. Der Rest seiner Leute war damit beschäftigt gewesen, kanisterweise Benzin in eben diese Öffnungen zu schütten. Einmal entzündet, so der Plan, würden die Flammen zu einem riesigen Feuerkreis verschmelzen und den Eisblock in der Mitte freilegen. Die Koreaner müssten diesen Block dann nur noch auf ihr Raupenfahrzeug verladen - wie auch immer sie das bewerkstelligen wollten.
„Fang an!“, rief Fjodor.
Er und das Gros seiner Männer traten ein paar Schritte zurück, als der Mann mit der Pelzmütze eine Zigarette herausholte und ansteckte. Über die Entzündlichkeit von Benzindämpfen schien er sich keine Gedanken zu machen, während er die Zigarette bis zur Hälfte herunterrauchte. Fast schon respektlos ließ er den glimmenden Rest in eines der Löcher fallen.
Die herausschießende Stichflamme war nahezu unsichtbar, doch ihre Druckwelle glich der einer Sprengung. Ein Feuerball von wenigstens zwanzig Metern Durchmesser stieg in den Himmel, färbte sich schwarz und regnete gleich darauf als Staub zu Boden. Gemeinsam mit dem Ruß legte sich auch eine düstere Stille über die Szenerie. Unterbrochen wurde sie nur vom Züngeln und Zischen der Flammen, die aus den gut drei Meter tiefen Spalten und Löchern loderten.
„Seid ihr okay?“ Fjodor richtete die Frage an niemanden Bestimmten aus dem Team. Es war aber offensichtlich, dass sie nicht den qualmenden Überresten unter der Pelzmütze galt, die auf groteske Weise mit ihrem Besitzer verschmolzen war. Unwahrscheinlich, dass er noch mitbekommen hatte, wie weit er von der Explosion durch die Luft geschleudert worden war.
Keiner der Anwesenden fühlte sich direkt angesprochen, und keiner bekundete Interesse daran, einen genaueren Blick auf das leblose Brikett zu werfen.
„Wir müssen ihn hier wegschaffen, bevor die Koreaner auftauchen“, sprach Fjodor aus, was die meisten dachten, und fügte rasch hinzu: „Er war ein guter Mann. Ohne ihn wären wir nie so weit gekommen. Wer von euch erweist ihm die letzte Ehre und...?“ Er stoppte mitten im Satz, da er die Antwort an ihren Gesichtern ablesen konnte. Niemand würde sich freiwillig melden, und das konnte man ihnen schwer übelnehmen. Sie waren extrem knapp an Zeit und hatten gerade einen ihrer erfahrensten Männer - wenn auch nicht im Umgang mit Benzin - verloren.
Fjodor räusperte sich. „Sein Anteil gehört demjenigen, der ihm die letzte Ehre erweist. Ihr wisst, dass er das so gewollt hätte.“
Kurzes Schweigen.
„Ich mache es!“
Fjodor nickte die freiwillige Meldung ab und war froh, die Sache damit erledigt zu wissen. Der Verstorbene war nicht sonderlich beliebt gewesen. Ein Einzelgänger, allerdings einer, der richtig zupacken hatte können. Den meisten tat es wahrscheinlich mehr leid, seine Arbeitskraft verloren zu haben als seine Gesellschaft.
„Das ist der Fluch!“ Der Dorfälteste war auf einen Stock gestützt, als er sich dem Unglücksort näherte. „Habe ich euch nicht schon immer gewarnt? Ihr Jungen denkt, ihr wisst schon alles, aber ihr wisst nicht viel. Dummköpfe seid ihr, und ihr werdet ständig weniger. Wie viele wollt ihr noch verlieren? Wann seht ihr endlich ein, was ihr mit eurem Leichtsinn anrichtet?“
Fjodor verdrehte genervt die Augen, sparte sich aber jeden Kommentar.
„Ihr wisst nicht, was ihr heraufbeschwört! Keiner von euch weiß das!“ Der Alte stutzte, als er die Flammen bemerkte, die aus dem Boden züngelten. Sein entsetzter Blick galt dem Hauptschuldigen. „Bist du von allen guten Geistern unserer Ahnen verlassen, Fjodor?“ Er schüttelte wieder und wieder den Kopf, als er sagte: „Du musst gehen! Du musst das Dorf verlassen. Sonst wirst du noch größeres Unglück über uns bringen. Du musst gehen, solange noch Zeit dafür ist. Verlass endlich unser Dorf, Fjodor!“ Mit Blick in die Runde und deutlich lauter stellte er die anderen Anwesenden zur Rede: „Seht ihr denn nicht, was hier passiert? Ist euch euer Schicksal egal? Maa brennt. Sie brennt! Wisst ihr, was das heißt? Versteht ihr überhaupt, was ihr getan habt?“ Tränen liefen ihm übers Gesicht, als er neben dem Toten auf die Knie sank. „Maa wird uns nicht länger beschützen... nicht länger... kein Schutz... wenn sie kommen...“ Seine Worte wurden leiser und endeten in einem unverständlichen Gemurmel.
„Gib ihm etwas zu trinken!“, verlangte Fjodor von einem seiner Männer. „Bring ihm gleich zwei Flaschen Wodka, dann beruhigt er sich wieder.“ Als er bemerkte, wie sorgenvoll, vielleicht sogar ängstlich die Männer den Alten anstarrten, wurde sein Tonfall schärfer: „Und schafft ihn endlich hier weg! Schafft sie beide weg, bevor noch etwas passiert!“
Ehe einer dem Alten zu nahe kommen konnte, rappelte dieser sich wieder auf, streckte seinen Stock in den Himmel und rief: „Das Dorf ist verloren! Maa wird uns nicht länger vor ihnen beschützen! Die Mutts werden zurückkommen!“ Er klopfte dreimal mit der Spitze seines Gehstocks auf den Boden, drehte sich um und verließ das Geschehen mit zittrigen Schritten. „Sie werden zurückkommen“, wiederholte er, während er sich murmelnd entfernte. „Sie werden zurückkommen.“
***
Naturhistorisches Museum Wien (NHM), tags darauf:
Das Büro von Uschi Fröhlich, der führenden Wirbeltierpaläontologin in Wien, entsprach dem Museumsstandard: extreme Raumhöhe, antike Möbel, riesige Holztüren und Jahrhundertmauern, wie sie eines historischen Ringstraßengebäudes würdig waren.
Der Computermonitor meldete den Eingang einer neuen Nachricht via Skype, doch die beiden Anwesenden schienen sich nicht dafür zu interessieren.
„Ist das eine Falte? Die muss neu sein. Ich schwöre dir, die war gestern noch nicht da.“
„Karin, jetzt stell dich nicht so an! Vierzig ist doch heutzutage echt kein Alter mehr.“ Uschis bayrischer Dialekt hatte seit ihrem Umzug nach Wien etwas gelitten, hob sich sprachlich aber immer noch deutlich vom durchschnittlichen Museumsmitarbeiter ab.
„Du hast leicht reden.“ Karin betrachtete ihr Spiegelbild auf einer Metalldose, die mit einer bunten Mischung aus Faserstiften und Kugelschreibern gefüllt war. Sie verdrehte ihr Handgelenk, und der skeptische Blick ihres Spiegelbilds wanderte über die Dose. „Wenn ich die Garantie hätte, in deinem Alter noch so gut auszusehen wie du, würde ich mir auch keine Sorgen machen.“
„Also so viel älter als du bin ich jetzt auch wieder nicht.“
Karin stutzte. „Nein, so war das nicht gemeint.“
„Das will ich doch hoffen.“ Uschi setzte sich amüsiert an ihren riesigen Schreibtisch und hob allerlei Zettel und Mappen an, als würde sie etwas suchen. „Außerdem bist du blond.“
„Und?“, fragte Karin, nachdem keine weitere Erklärung mehr zu kommen schien.
„Was und?“ Uschi hatte sich völlig in ihre Suche vertieft und blickte nur kurz hoch.
„Was hat es deiner Meinung nach zu bedeuten, dass ich blond bin?“
„Euch Blondinen sieht man das Alter nicht so leicht an.“ Uschis Suche folgte keinem erkennbaren Muster. Scheinbar zufällig hob sie Papierstöße hoch und drehte Heftmappen um - manche davon mehrfach, andere gar nicht. „Hast du zufällig meinen Schlüssel gesehen?“
„Nein.“ Karin stellte die Stiftdose auf einen der wenigen freien Plätze auf dem Schreibtisch. „Soll ich dir suchen helfen? Wie sieht er aus?“
„Danke, nicht nötig. Bleib einfach nur da stehen und gib mir Bescheid, wenn er heimlich den Raum verlassen will... Ich hab ihn doch genau hierhin gelegt... oder war es dort drüben?“ Sie rollte mit ihrem Sessel zum anderen Tischende. „Schau mich an: lange, dunkle Haare. Steht ihr doch richtig gut, wirst du jetzt vielleicht denken. Aber was du nicht siehst, ist, wie viel öfter ich sie mir färben muss, weil jedes einzelne graue Härchen herausleuchtet wie eine Signalrakete. Bei dir fallen sie dagegen überhaupt nicht auf.“
„Ich habe keine grauen Haare“, erwiderte Karin mit bestürztem Tonfall. „Und ich habe sie auch noch nie gefärbt.“
Der Computermonitor meldete eine weitere Nachricht, doch wieder schenkte keiner dem aufleuchtenden Symbol Beachtung.
„Siehst du, genau das meine ich. Blonde Haare sind ein echter Segen. Ich weiß, wovon ich rede... Bist du sicher, dass mein Schlüsselbund nicht an dir vorbeigekommen ist?“ Uschi wühlte sich durch die beachtliche Sammlung von kleinen Plüsch- und Plastikelefanten auf ihrem Fenstersims. „Vielleicht hier“, murmelte sie.
„Wie soll er denn dort hingekommen sein?“
„Oh! Du hast ja keine Ahnung, wie einfallsreich er ist, wenn es um ein gutes Versteck geht. Fast so, als ob er Hilfe dabei hätte. Ehrlich, es gibt Tage, da frage ich mich, ob ich vielleicht diesen kleinen, rothaarigen Kobold aus Bayern mitgebracht habe.“
„Pumuckl?“ Karin hatte etwas entdeckt und beugte sich vor, um es aufzuheben.
„Hast du ihn gesehen?“
„Nicht hier im Museum. Ist das der Schlüssel, den du suchst?“
Uschi blickte zu ihr. „Ja! Genau das ist er.“ Sie stieß sich mit den Beinen ab und rollte zu Karin hinüber. „War doch gut, dass du Wache gehalten hast.“
„Willst du wissen, wo er...?“
„Nein, nicht nötig. Er versteckt sich so gut wie nie zweimal hintereinander am selben Fleck. Aber trotzdem danke.“
Die Anzahl der ungelesenen Skypenachrichten war zwischenzeitlich auf drei angewachsen.
„Na gut, da wir alle wichtigen Fragen des Tages geklärt haben, werde ich mich wieder auf den Weg in die Prähistorik machen. Wir haben gestern ein Schwert mit Stoff- und Lederresten von der Ausgrabung in Salzburg- Liefering bekommen. Ein sehr schönes Stück, das nun darauf wartet, katalogisiert zu werden.“
„Warte...“ Uschi hob eine Hand, während sie mit der anderen die Maus bediente. „Ich glaube, das hier könnte dich auch interessieren... sehr sogar!“
Karins Neugier machte einen Schritt nach vorn. Ihr erster Blick fiel auf den Absender: Luis Morengie stand neben dem Profilfoto eines Mannes mit Campingrucksack. Das braungebrannte Gesicht war vermutlich Mitte dreißig und sichtlich gut gelaunt. Eine Zeile darunter, in einer Art Statusleiste, stand: Sie werden zurückkommen.
„Der Knabe sieht wirklich nicht schlecht aus“, stellte Karin fest. „Ist das der Assistent mit dem du in Amerika Saurier ausbuddeln warst?“
„Ja, da ist Luis Morengie, von dem ich dir schon erzählt habe“, murmelte Uschi während sie in den Text der Nachrichten vertieft war. „Er schreibt, dass er ein Video für mich hat mit einer Neuigkeit, die alles verändern wird... Und dass es jetzt fertig hochgeladen ist - unter diesem Link.“ Sie scrollte nach unten und klang etwas enttäuscht als sie sagte: „Er meldet sich später wieder.“
„Ist er noch online?“
Uschi schüttelte den Kopf.
„Na los, klick drauf! Wozu noch warten, wenn du es in der Hand hast, die Welt zu verändern.“
Uschi klickte den Link an und wurde zu einer Seite weitergeleitet, auf der ein Videofenster zu sehen war. Als der Mauszeiger den Startknopf berührte, dunkelte der Bildschirm ab und ein Eingabefeld mit blinkendem Cursor erschien.
„Was ist das?“
Uschi lächelte, als hätte sie mit einem solchen Hindernis gerechnet. „Das ist seine Art zu sagen, dass dieses Video nicht für Fremde bestimmt ist.“
Karin lehnte sich auf Uschis Schulter. „Dann ist es ja gut, dass ich ihn schon von deinen Erzählungen kenne. Weißt du das Passwort?“
Uschi drehte den Kopf zur Seite, sodass ihre Nasen einander fast berührten. „Weißt du es?“
„Ach komm! Du hast gesagt, ich soll noch bleiben, weil du mir etwas Interessantes zeigen willst. Nur deshalb bin ich geblieben und habe mein cooles Schwert noch nicht aus seiner Transportverpackung geholt. Zeig du mir deines, dann zeig ich dir meines!“
„Ja, schon gut.“ Uschi tippte das vermutete Passwort ein und wurde postwendend mit dem freigeschalteten Video belohnt. „Aber du behältst es für dich!“
„Archäologinnenehrenwort.“
Das Video, offensichtlich freihändig gefilmt, zeigte Luis Morengie vor einem dunkelgrünen Zelt. Das Bild war verwackelt, der Ton war von Windrauschen überlagert und das Licht deutete auf eine Aufnahme am späten Nachmittag hin. „Uschi, du errätst nie, wo ich bin“, sprach Luis in die Kamera.
„Er ist in Sibirien“, konterte sie, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
„Ich bin in Sibirien“, löste Luis das Rätsel nach seiner vermeintlich dramatischen Pause. „Und ich bin nicht allein hier. Ich weiß, dass du immer skeptisch warst, was meinen Lebenstraum betrifft, aber jetzt gerade bin ich so nah dran wie nie zuvor. Es wird passieren, Uschi. Wir werden sie zurückbringen! Wir haben...“ Die folgende Windbö war so heftig, dass sie nichts von der Stimme übergelassen hatte. Im Hintergrund war zu erkennen, wie sehr der Sturm dem Zelt zusetzte. Ein Blick in Luis‘ Gesicht reichte, um zu erahnen, wie kalt es vor Ort sein musste. Dennoch wirkte er ausgesprochen glücklich, vor allem aber aufgeregt.
„Wovon redet er?“, fragte Karin.
„Mammuts“, sagte Uschi emotionslos.
„Er bringt Mammuts zurück? Wohin?“
„Gar nichts bringt er zurück.“ Uschi schüttelte langsam den Kopf. „Das mit den Mammuts ist eine fixe Idee von ihm. Er glaubt, dass es eines Tages gelingen wird, sie zu klonen. Und dann sollen sie wieder auf der Erde herumlaufen wie früher. Wir klonen sie und setzen sie zurück in die Natur - einfach so, als wäre nichts gewesen.“
„Geht das überhaupt?“
„Das Klonen? Irgendwann... vielleicht! Aber selbst wenn es in fünfzig oder hundert Jahren gelingt, wo willst du die armen Tiere aussetzen? Ihr eiszeitlicher Lebensraum ist seit Jahrtausenden zerstört. Ich meine, die sind ja nicht aus Jux und Tollerei ausgestorben, sondern weil sie überall auf der Welt ihre Weidegründe in Folge des damaligen Klimawandels verloren haben. Zumindest ist das die gängige Lehrmeinung, der ich mich anschließe.“
Das Windrauschen ließ nach und die Stimme von Luis Morengie kehrte zurück. „...genau, was du jetzt denkst, Uschi! Aber diesmal irrst du dich, und zwar gewaltig. Ich bin nämlich nicht allein nach Sibirien gereist. Kennst du Dr. Kim und sein Team? Ja, der Dr. Kim! Er ist hier. Und er sitzt keine fünf Meter hinter mir in dem Zelt und analysiert die Proben...“ Luis drehte sich um und zeigte in die Richtung, wodurch seine Stimme vorrübergehend nicht zu verstehen war.
„Wer ist Dr. Kim?“, fragte Karin.
„Später.“
„...das Beste ist“, fuhr Luis fort, „sie haben zugestimmt, dass ich dir eines unser drei Überraschungspakete zukommen lassen kann. Also deinem Museum. Ist das nicht großartig? Das wird eine Riesensache, und ich sorge dafür, dass du einen Platz in der ersten Reihe bekommst.“ Sein Lächeln kämpfte gegen den eisigen Wind an. „Fußfrei versteht sich. Ach Uschi, ich wünschte, du wärst hier und könntest diese entscheidenden Stunden der Weltgeschichte miterleben. Es ist genau so...“ Er drehte sich kurz zur Seite, als würde er auf eine weit entfernte Stimme reagieren. Vier oder fünf Sekunden verstrichen, dann hob er bestätigend die Hand und wandte sich wieder dem Objektiv der Kamera zu. „Sorry, das war’s erstmal von mir. Ich melde mich, sobald ich etwas Luft habe. Im Moment macht uns das Wetter ganz schön zu schaffen. Wenn alles klappt, dann...“ Sechs sturmverrauschte Sekunden später endete das Video.
„Wow“, war das Erste, was Karin sagte, um die darauffolgende Stille zu beenden. „Dein ehemaliger Assistent hat sich ja ganz schön was vorgenommen. Aber lieb von ihm, dass er dir einen Platz in der ersten Reihe freihält - ich meine, bei der Riesensache...“
„Er glaubt tatsächlich, was er in dem Video gesagt hat - jedes Wort.“ Es klang fast, als wollte sie ihn in Schutz nehmen. „Aber ich muss zugeben, dass es mir sehr schwerfällt, ihm zu glauben. Auch wenn er so prominente Unterstützer hat.“
„Wer ist dieser Dr. Kim?“
Das Telefon auf Uschis Schreibtisch läutete.
***
Sibirien am späten Nachmittag:
„Hier, schmieren Sie sich das ins Gesicht!“ Dr. Kim reichte dem Wahlösterreicher einen Cremetiegel.
„Gegen die Kälte?“, fragte Luis Morengie.
„Machen Sie nicht den Fehler, dieses Land zu unterschätzen! Bei meiner letzten Expedition habe ich zwei gute Kollegen verloren. Einen dritten konnten wir nur noch teilweise retten. Seine Füße waren in den Schuhen festgefroren. Mit der Kälte hier ist nicht zu spaßen. Sobald die Sonne weg ist, wird das Klima Ihr größter Feind. Vergessen Sie das bitte nicht bei all der Aufregung über unseren Fund.“
„Sie haben recht.“ Luis nickte sichtlich beeindruckt und verteilte die zähe Creme auf seinen Wangen. „Ich bin Ihnen wirklich ungemein dankbar, dass ich bei diesem Ereignis dabei sein darf.“
„Sie sind hier, weil Ihre Arbeit und Ihre Einstellung mich überzeugt haben. Dafür müssen Sie sich bei niemand anderem bedanken als bei sich selbst.“ Kims Augen waren sichelförmig nach unten gebogen. Wenn er lächelte, bildeten sie mit seinen Mundwinkeln zwei Kreise, die an eine Brille erinnerten. Sein kurzes schwarzes Haar war extrem dicht und machte es unmöglich, sein Alter zu erraten. Er sah immer noch aus wie zu seinem dreißigsten Geburtstag, doch der lag lange Zeit zurück.
„Dr. Kim?“ Einer seiner koreanischen Assistenten trat an die beiden heran. „Fjodor sagt, dass es heute Nacht sehr ungemütlich werden wird. Er und die anderen Dorfbewohner wollen die Arbeiten lieber einstellen und warten, bis der Sturm weitergezogen ist.“
„Schicken Sie ihn bitte zu mir, ich regle das.“
Der Assistent nickte und verschwand.
„Eine Verzögerung ist das Letzte, was wir jetzt brauchen können“, stellte Kim fest. „Wir müssen unbedingt das Schiff erwischen, sonst sitzen wir länger hier fest als uns lieb sein kann.“
Luis schaute zu den beiden Raupenfahrzeugen, mit denen sie sich in die Einöde vorgekämpft hatten. Ihre kantigen, vom Rost überzogenen Konstruktionen ließen die Gefährte wie Kreaturen aus einer anderen Welt wirken.
„Die bringen uns nur noch nach Norden.“ Kim hatte Luis‘ abschweifenden Blick bemerkt. Mit seiner Aussage spielte er auf den Hafen an, in dem das Schiff ankerte, das Mannschaft und Fund nach Südkorea bringen würde. „Wir müssen dem Frost folgen, sonst taut unser Eisblock auf und...“
„Natürlich!“, bestätigte Luis sogleich. Er wollte gar nicht daran denken, wie es wäre, am Eishafen zu stehen und das Schiff verpasst zu haben. Bergung und Abtransport des tiefgefrorenen Mammuts mussten einem strengen Zeitplan folgen, um eine durchgehende Kühlkette sicherzustellen. Ein vorzeitig aufgetautes Mammut war nicht mehr als ein weiterer stinkender Kadaver - ein extrem teurer noch dazu.
In einiger Entfernung war Fjodor auszumachen. Er schien es nicht eilig zu haben, mit Dr. Kim über Zeitplan und Wetter zu diskutieren.
Luis Morengie bemerkte den näherkommenden Dorfbewohner als Erster und sagte zu Kim: „Ich hoffe, dass es Ihnen gelingt, ihn umzustimmen.“
„Machen Sie sich darüber keine Sorgen.“ Er zeigte auf eine von mehreren Ausrüstungskisten. „Ich hatte Ihnen drei exklusive Transportbehälter versprochen, um in Europa für mediale Unterstützung zu sorgen.“
„Da drin?“
Kim nickte. „Das Modernste, was die Transporttechnik derzeit zu bieten hat: klein, robust und besser isoliert als ein Raumfrachter. Sie werden auf der ganzen Welt keinen Behälter finden, der die Proben länger kühl hält.“
„Gefertigt in Südkorea?“
„Klar, was dachten Sie denn?“ Kim lachte. „Die Firma, die sie herstellt, wird sie Ende des Jahres unter der Bezeichnung Crygo auf den Markt bringen. Eine Kombination aus Cryogen und Cargo. Man hat mir freundlicherweise diese drei Prototypen zur Verfügung gestellt. Unentgeltlich, wie ich betonen darf.“
Luis öffnete die Aluminiumkiste und nahm eines der Crygos heraus. „Ich werde damit in die Kameras winken. Natürlich ganz langsam, damit man das Logo gut erkennen kann.“
„Ich sehe, Sie wissen, wie unsere Zusammenarbeit mit der Industrie funktioniert. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss Fjodor wieder auf Kurs bringen.“
***
Wohnung von Uschi Fröhlich, Stunden später:
Die Paläontologin hatte sich gerade bettfertig gemacht - schwarzes Seidennachthemd inklusive. Auf dem Weg ins Schlafzimmer klingelte ihr Handy. Sie ignorierte es und vertraute den Anruf ihrer Mailbox an.
Gleich darauf klingelte es erneut - mit der Mailbox schien dem Anrufer nicht geholfen zu sein. Sie gab sich einen Ruck und ließ sich zurück zum Couchtisch im Wohnzimmer locken. Wer ruft denn um diese Zeit...? Das Display schien besonders hell zu leuchten. Karin?
„Uschi!“, tönte es aus dem Lautsprecher, noch ehe die Genannte sich melden konnte.
„Karin? Was um alles in der...?“
„Schaust du fern?“
„Was... nein... wieso?“
„Dreh auf! Nachrichten auf ORF2, jetzt!“
„Aber...“
„Dreh auf... Der dritte Beitrag ist es - fängt gleich an. Und ruf mich später zurück. Bis gleich!“
Das Gespräch war beendet.
Uschi ließ ihren Blick zur Fernbedienung schweifen, die zum Glück deutlich größer war als ihr Schlüsselbund. Sie entdeckte sie zwischen zwei Polstern auf der Couch. Es dauerte weitere fünfzehn Sekunden, bis sie den Fernseher eingeschaltet und den richtigen Sender eingestellt hatte. Ein Beitrag über die Querelen der österreichischen Innenpolitik ging gerade zu Ende, und die Moderatorin kündigte ein Videointerview zum nächsten Thema an.
„Ich möchte mich im Voraus für die schlechte Bild- und Tonqualität der Satellitenverbindung entschuldigen. Das Gespräch haben wir aus technischen Gründen vorab aufgezeichnet.“
Die Bildregie blendete zur zweiten Kamera. Diese zeigte die Moderatorin neben einem eingeblendeten Skype-Videofenster. Luis Morengie aus Sibirien stand unter einem von Kälte gezeichneten Gesicht.
Uschi verschlug es den Atem.
„Dr. Morengie, können Sie mich hören?“, fragte die Moderatorin.
Nach der zu erwartenden Zeitverzögerung bejahte der Angesprochene und klopfte auf sein Headset. „Es rauscht zwar, aber ohne das Satelliteninternet meiner koreanischen Kollegen wären wir hier völlig vom Rest der Welt abgeschnitten.“
Die Moderatorin nickte. „Dr. Morengie, Sie gelten als uneingeschränkter Befürworter des Klonens von ausgestorbenen Tierarten, allen voran dem Wollhaarmammut. Diese Technik ist alles andere als unumstritten. Ausgerechnet Ihr eigener Vater gilt als einer Ihrer größten Kritiker.“
„Das ist richtig. Mein Vater und ich unterhalten uns schon seit Jahren nicht mehr über unsere Arbeit.“ Der Begeisterung über die Erwähnung seines alten Herrn nach zu urteilen, hielten die beiden auch privat seit geraumer Zeit Distanz. „Umso mehr freut es mich, dass ich meinen Platz im Team von Dr. Kim gefunden habe. Er ist ein Genie, und wenn überhaupt irgendjemand die Erfolgschancen unserer Mission realistisch beurteilen kann, dann er.“
„Ich möchte Ihre Einschätzung keinesfalls relativieren. Aber unsere Zuschauer sollten wissen, dass, wenn es Wissenschafter gibt, die eine Rückkehr dieser Tiere noch euphorischer sehen als Sie, dann sind das Dr. Kim und sein Team.“
Luis Morengie lächelte.
„Kommen wir gleich zur nächsten Frage: Sie und Ihre koreanischen Kollegen haben heute mit einer wissenschaftlichen Sensation aufhorchen lassen, als Sie vom ersten - ich zitiere: absolut perfekt erhaltenen Mammut im sibirischen Eis berichtet haben. Was genau dürfen wir uns darunter vorstellen? Schließlich ist Ihr Fund nicht der Erste, über den behauptet wurde, dass er den Durchbruch bei der Suche nach perfekt erhaltener DNA darstellt. Genau diese ist aber nach Meinung internationaler Experten unerlässlich, um überhaupt über ein geklontes Mammut nachzudenken.“
Luis Morengie behielt sein Lächeln. „Sehen Sie, ich glaube, dass unsere Herangehensweise den entscheidenden Unterschied bei diesem Thema ausmacht: Dr. Kim und ich denken nicht erst dann über das Klonen nach, wenn wir alle Zutaten auf dem Labortisch liegen haben - wie das unsere Kritiker tun. Wir gehen stattdessen aktiv an die Aufgabe heran und lösen ein Problem nach dem anderen. Und heute, so weit darf ich mich bereits aus dem Fenster lehnen, haben wir einen Riesenschritt gemacht, um unser DNA-Problem zu lösen.“
„Heißt das, dass Sie und Ihre koreanischen Kollegen in absehbarer Zeit ein Mammut klonen werden, das Sie unseren Fernsehzusehern präsentieren können? Sagen wir in zwei Jahren?“
Ein Foto von einem dunklen Umriss inmitten eines riesigen Eisblocks wurde eingeblendet. Das Datum in der rechten unteren Bildecke war aktuell.
„Es wäre unprofessionell und unglaubwürdig, sich heute bereits auf diesen Termin festzulegen, aber ich kann Ihnen versprechen, dass es kein Jahrzehnt mehr dauern wird, bis wir Ihnen ein lebendes Wollhaarmammut präsentieren. Ein Tier, das seit dem Ende der letzten Eiszeit als ausgestorben gilt.“
„Das klingt fast, als wäre eine gut erhaltene DNA für Sie das einzige ernst zu nehmende Hindernis auf dem Weg zu einem lebendigen Klon. Ist es nicht so, dass das Klonen in Wahrheit immer noch mit erheblichen Risiken und Ausfällen verbunden ist? Namhafte Experten aus Frankreich, den USA und Kanada haben erst vor wenigen Wochen auf einem Kongress...“
„So namhaft, wie Sie diese Damen und Herren gerade darstellen“, unterbrach er, „sind sie in Wirklichkeit nicht. Ich gebe zu, dass die Amerikaner eine Menge Erfahrung beim Klonen von Steakfleisch haben, aber das Zurückholen einer ausgestorbenen Art, ist eine völlig andere Baustelle. Wir sprechen davon, den Zellen einer über zehntausend Jahre alten Eismumie wieder Leben einzuhauchen. Das lässt sich überhaupt nicht vergleichen. Weltweit gibt es kaum mehr als eine Handvoll echter Experten in unserem sehr speziellen Bereich. Und bitte glauben Sie mir, wenn ich sage, dass einer der Besten, wenn nicht der Beste von ihnen, gerade mit mir an der Sensation arbeitet, die wir Ihnen angekündigt haben. Wie Sie selbst schon erwähnt haben... Vergangenheit zahlreiche verfrühte Jubelrufe von sogenannten Experten. Umso wichtiger ist es uns, dass wir unser Versprechen... Tat umsetzen: Wir werden der Welt das erste Mammut zurückgeben - ein lebendes Tier, das auf der ganzen Welt mit großer Begeisterung empfangen werden wird. Darauf geb...“
„Die Verbindung wird leider immer schlechter. In weniger als zehn Jahren, haben Sie gesagt?“, hakte die Moderatorin nach.
Zwei weitere Fotos wurden eingeblendet. Eines zeigte die Kreatur im Eisblock aus einem anderen Blickwinkel, wodurch ein Bohrloch zu erkennen war. Das andere zeigte ein Stück gefrorenes Fleisch in Form des Bohrlochs. Auf den ersten Blick deuteten nur die langen Haare darauf hin, dass es sich nicht um ein Stück aus der heimischen Gefriertruhe handelte. Daneben lag etwas, das aussah, wie eine zu groß geratene Thermoskanne aus poliertem Edelstahl. Mit eisblauen Buchstaben war Crygo eingraviert, wobei das o große Ähnlichkeit mit einem Eiskristall hatte.
„Ich - und das ist wirklich nur meine ganz persönliche Meinung - kann mir sogar vorstellen, dass wir es bis zum Ende des Jahrzehnts hinbekommen. ...nur meine Meinung, die zugegebenermaßen von Optimismus und Euphorie... Aber binnen der nächsten zehn Jahre schaffen wir es jedenfalls, das Wollhaarmammut zurückzuholen. Ja, das ist korrekt.“
„In Ihrer offenbar sehr kurzfristig gestalteten Presseaussendung heißt es außerdem, dass Sie in Sibirien gerade drei weitere Überraschungen vorbereiten, die Sie der Welt zukommen lassen wollen. Können Sie uns darüber schon etwas sagen?“
„...sicher vorstellen können, sind die Bedingungen, unter ...arbeiten, nicht mit denen in Ihrem Redaktionsbüro vergleichbar. Bitte sehen Sie es... nach, wenn unsere Texte und Fotos Sie nicht in perfekter Qualität erreicht haben. Selbstverständlich liefern... hochwertigeres Material, ...zurück in der Zivilisat...“ Die Mundwinkel von Luis Morengie hoben sich zu einem Schmunzeln. „...anderen Frage: ...heute schon verraten würde, wäre es doch keine Überraschung mehr. Ich...“
„Ich weiß nicht, ob Sie mich noch hören können, Dr. Morengie, aber die Verbindung lässt leider keine sinnvolle Unterhaltung mehr zu. Wir wünschen Ihnen und Ihrem Team jedenfalls alles Gute und freuen uns schon auf die versprochenen Überraschungen.“
Die Nachrichten wechselten zum nächsten Beitrag.
Das glaube ich nicht. Uschi ließ die Fernbedienung sinken, die sie die ganze Zeit fest umklammert gehalten hatte. Wie um alles in der Welt hat Luis es ins Fernsehen geschafft? Luis! Ausgerechnet Luis Morengie mit seiner Idee vom geklonten Mammut. Das ist doch ein Witz. Das kann nur ein Witz sein! Sie musste sich setzen.
Kaum berührten ihre Oberschenkel das kühle Leder der Couch, läutete das Mobiltelefon.
Karin!
***
RaptorGen-Tower, Houston, Texas, etwa zur selben Zeit:
Das Büro von Victoria Shark war das Penthouse des RaptorGen-Towers. Ein Gigant aus Glas und Stahl, der die meisten Gebäude in Sichtweite überragte. Die Panoramaverglasung ringsum ließ einen das nie vergessen. „Schach!“ Victoria brachte Ihren Läufer in Position und zwang ihre zwölfjährige Tochter dadurch, die gewählte Spielstrategie zu verändern.
„Das ist fies!“, protestierte die Kleine und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre gefallenen Figuren lagen neben dem Brett und spiegelten sich im Rauchquarz der Schreibtischoberfläche. Das wöchentliche Schachtraining war Teil der Ausbildung, wie ihre Mutter nicht müde wurde zu beteuern.
„Das ist das Leben.“ Victoria Shark, Mitte vierzig, alleinerziehend und Vorstandsvorsitzende des Konzerns RaptorGen, wusste, wovon sie sprach. Es war ein beschwerlicher Weg an die Spitze gewesen, der sie durch die Enddärme aller namhaften Bankgrößen hatte kriechen lassen. Sie hatte alles, wirklich alles getan, um die Bankdirektoren gnädig zu stimmen - umsonst.
Zwei Jahre war es her, da hatte Victoria vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens gestanden: Ihr Bruder Victor, oder dessen Lebenswerk.
Ihr Geld und ihr Einfluss hatten nicht gereicht, um beide zu retten. Nach kurzer Beratung mit den Firmenanwälten hatte Victoria sich für RaptorGen, einen weltweit führenden Biotechkonzern, entschieden und damit das schwere Erbe ihres Bruders angetreten.
Victoria tröstete sich damit, dass Victor in ihrer Situation dieselbe Wahl getroffen hätte. Obwohl auf das Spiel konzentriert, blickte sie in unregelmäßigen Abständen zur Panoramaglasscheibe. Ins Glas eingelassene Kristalle zeigten Uhrzeit, Wetterdaten und den Aktienkurs von RaptorGen. Die spiegelverkehrten Zahlen schimmerten bläulich-transparent. Durch ihre Größe waren sie auch noch einige Blocks weiter gut zu erkennen. Jeder sollte sehen, dass es mit RaptorGen wieder aufwärts ging, seit Victoria das Steuer übernommen hatte. 18,71 Dollar zeigte der Kursticker.
„Weißer Turm auf A4!“ Die Kleine hatte sich für eine Gegenoffensive entschieden.
Victoria entschärfte die Situation blitzschnell mit ihrem Springer. Entschlossenheit, das war es, was sie bei ihrem Bruder stets vermisst hatte.
Victor hatte ein paar unverzeihliche Fehler gemacht und RaptorGen an den finanziellen Abgrund geführt. Victoria hatte daraufhin keine Sekunde gezögert, und dem Teufel ihre Seele verkauft, um den Konzern retten zu können. Eines der wichtigsten Argumente, mit dem sie die Gläubiger zum Einlenken bewogen hatte, war die strategische Neuausrichtung gewesen: Weg von der grünen, hin zur roten Gentechnik. Die tausenden Patente, die RaptorGen auf gentechnisch verändertes Saatgut und die damit verbundenen Verfahren gehabt hatte, waren das Familiensilber gewesen. Victoria hatte sie ohne Ausnahme verkauft - verkaufen müssen. Die internationale Konkurrenz war Schlange gestanden, um sich ihren Anteil am Kuchen zu sichern.
Milliarden waren daraufhin in RaptorGens leere Kassen geflossen, doch Victoria wusste, dass diese Unternehmen ihre Ausgaben über die Lizenzgebühren zigfach zurückbekommen würden.
Wirtschaftlich betrachtet war es ein Riesenfehler gewesen, diese Patente auf Leben derart zu verschleudern. Erst recht, da sich die freizügige Gesetzeslage in den USA leicht verschlechtert hatte. Doch das hatte sie den Idioten in ihren Banktürmen nicht klarmachen können. Victoria war mit dem Rücken zur Wand gestanden und hatte die einzige Gelegenheit ergreifen müssen. Dank Victoria hatte RaptorGen seine giftgrüne Vergangenheit hinter sich gelassen und steuerte einer blutroten Zukunft entgegen: ihrer Zukunft, RaptorGens Zukunft und die der gesamten Menschheit.
„Du spielst viel besser als ich, Mama.“
„Ich müsste mir ernsthaft Sorgen machen, wenn es anders wäre. Ich hoffe doch sehr, du lässt mir noch ein paar Jahre an der Spitze vom RaptorGen, bevor du in meine Fußstapfen trittst und mich in den Ruhestand schickst.“
„Mal sehen“, entgegnete die Kleine mit einem kecken Grinsen. „Wie gefällt dir das?“
Victoria versuchte, sich die Überraschung über den gelungenen Zug nicht anmerken zu lassen. Entsprechend rasch reagierte sie auf das kräftige Klopfen an ihrer Bürotür. „Kommen Sie rein!“
„Ms. Shark! Kleines!“ Der Albtraum jedes Kinderzimmers trat ein und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
„Mr. Raynhart.“ Selbst Victoria schien sein Anblick Unbehagen zu bereiten.
Raynhart sah aus wie frisch vom Galgen geschnitten, trug einen knielangen, schwarzen Ledermantel und legte großen Wert drauf, dass man das t am Ende seines Namens hart aussprach. Die Sohlen seiner Stiefel knarzten auf dem Glasboden, als er sich dem Schreibtisch näherte.
Die Kleine riss sich von dem Anblick los und starrte auf das Schachbrett. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Raynhart bemerkte ihr Zittern trotzdem. Sein rechtes Auge war schwarz. Es hieß, es wäre nicht völlig blind, sondern könne immer noch zwischen hell und dunkel unterscheiden. Es hatte aber keine erkennbare Pupille mehr, war einfach nur dunkel und machte einen zurecht nervös, wenn es einem folgte. Seine Bewegung war nicht perfekt mit dem gesunden Auge synchronisiert, als hätte das schwarze Auge seine eigenen Prioritäten bei der Erfassung von Problemen.
Die Kleine spürte seinen Blick auf sich und stützte ihren Kopf mit beiden Händen über dem Schachbrett ab. Ihren linken Zeigefinger schob sie in den Mund und biss kräftig darauf. Es tat gut, sich abzulenken.
„Ich informiere Sie darüber, dass wir in einer Viertelstunde aufbrechen!“ Seine Worte klangen wie Hammerschläge, die gegen einen widerspenstigen Nagel gerichtet waren.
„Danke.“ Victoria Shark vermied den direkten Augenkontakt so gut es ging. „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und eine sichere Reise.“
Raynhart nickte, drehte sich um und ging.
***
Sibirien, 18 Stunden später:
Am liebsten hätte Luis Morengie weitere zehn Minuten über den Temperaturabfall geflucht, doch die kalte Luft schmerzte zu sehr auf seinen freiliegenden Zahnhälsen. Stattdessen verstaute er die drei Crygos, die er mit Fleischproben der Eismumie gefüllt hatte. Jeder der Behälter war für den Versand nach Europa bestimmt, an drei einschlägige Adressen. Einer ging an das Natural History Museum in London. Der zweite war für das Muséum national d’Histoire naturelle in Paris gedacht. In den dritten Crygo, den für das Naturhistorische Museum in Wien, hatte Luis den vielversprechendsten Fleischbatzen gestopft. Uschi würde sein Geschenk hoffentlich zu schätzen wissen.
„Wohin mit diesem Transportnetz?“, fragt einer der Koreaner.
„Gleich dort hinten, zur Absicherung der weißgrauen Plane!“, erklärte Luis und blickte hinüber zu dem tonnenschweren Eisblock. Letztlich hatte es die Abwärme eines ausrangierten Flugzeugtriebwerks gebraucht, um genug Wasserdampf zu erzeugen und den Block aus dem Permafrostboden zu lösen.
Es beeindruckte Luis, welchen Aufwand sie trieben, um an eine einzige Zelle des Mammuts zu kommen. Ein paar hundert Gramm, so schätzte er, wog das gesamte Erbgut, das als DNA in Billionen von Körperzellen enthalten war. Und nur eine einzige dieser Mammutzellen war nötig, um alles an Information zu extrahieren, was man brauchte, um das Tier klonen zu können. Vorausgesetzt, besagte Zelle war nach den Jahrtausenden im Permafrost immer noch in Topzustand.
„Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, noch ein paar Grüße nach Europa zu schicken.“ Dr. Kim war völlig unerwartet neben Luis aufgetaucht. Die Begeisterung des Koreaners für Europa kam nicht von ungefähr, sah er in den Amerikanern und Chinesen doch seine größten Konkurrenten beim Wettlauf um das erste geklonte Mammut. Die Europäer dagegen zeigten kaum Ambitionen in diese Richtung, eigneten sich aber hervorragend als weltpolitische Stimmungsmacher. Gute Stimmung war wiederum wichtig, um die Geldgeber bei Laune zu halten. „Nur zu, benutzen Sie die Satellitenleitung so lange Sie wollen. Und vergessen Sie bitte nicht, genug Fotos vom Verladen zu machen!“
„Danke.“ Luis kam der Einladung gern nach, bedeutete sie doch, dass er ein weiteres Mal mit Uschi skypen konnte. Sie wäre nicht nur angesichts der sibirischen Eisweiten ein herzerwärmender Anblick.
Es dauerte einige Minuten, bis Luis eine stabile Verbindung aufgebaut hatte, dafür hob Uschi umgehend ab. Fast so, als hätte sie den ganzen Tag nichts anderes getan, als auf seinen Anruf zu lauern.
„Was genau läuft da bei dir? Du warst gestern in den Abendnachrichten. Luis, verrat mir sofort, was du da draußen für eine Show abziehst!“
„Ist nicht wahr.“ Luis gab sich keine Mühe sein Grinsen zu unterdrücken. „So richtig in den Nachrichten?“
„Luis!“
„Schon gut.“ Er hob beschwichtigend seine Hände, die von dicken Handschuhen geschützt waren. „Was soll ich dir noch groß erzählen, wenn du es schon aus dem Fernsehen weißt? Es ist alles wahr. Wir haben eine perfekte Mammutmumie aus dem Eis geholt. Der absolute Jackpot für die Klonforschung.“ Er drehte den Laptop ein Stück zur Seite, sodass die Kamera den mächtigen Eisblock im Hintergrund der Szenerie einfangen konnte. „Wie du siehst, sind wir fast fertig mit der Arbeit vor Ort. Wenn alles klappt, geht es noch heute Nacht los Richtung Laptewsee. Dort verladen wir unsere Eismumie auf ein koreanisches Kühlschiff und ab geht’s in Kims Labor. Ich kann dir gar nicht sagen, wie aufgeregt ich bin. Das wird der Oberhammer!“
„Ich gebe zu, du verkaufst euren Fund sehr gut. Wirklich, ich bin beeindruckt. Aber meine Skepsis wischst du damit noch lange nicht zur Seite.“
„Ich wusste, dass du das sagen wirst. Genau deshalb haben wir dein Museum ausgewählt, eine der drei Referenzproben zu erhalten.“
„Referenzproben?“
„Mammut-DNA! Frisch aus dem Permafrost in eure genetische Abteilung. Damit ihr in Wien eine Referenzanalyse durchführen könnt, um unsere Ergebnisse zu bestätigen. Ihr seid ganz vorn dabei!“
„Im Ernst?“
„Natürlich ist das mein Ernst. Glaubst du, ich veranstalte das alles hier nur, um dich zu beeindrucken?“
„Soll ich ehrlich antworten?“
„Lass dir Zeit damit, bist du den Crygo in Händen hältst, den ich dir schicke.“
„Ist das die silberne Thermoskanne, die auf dem Foto zu sehen war.“
„Exakt. Kim hat versucht, mir zu erklären, wie das Ding genau funktioniert. Aber ich glaube, so ganz hat er es selbst noch nicht verstanden. Ist aber auch egal, wenn der Crygo die Probe tatsächlich bis zu zehn Tage im Kälteschlaf hält. Jetzt beeindruckt?“
„Ein klein wenig.“ Uschis Blick wurde ernst. „Was läuft da hinter dir am Himmel ab?“
Himmel? Luis drehte sich um. Durch das Headset unter seiner Wollhaube hatte er nicht gemerkt, dass eine riesige Transportmaschine das Gebiet überflog. Aus ihrem geöffneten Heck waren drei riesige Kisten gefallen, die nun an noch riesigeren Fallschirmen zu Boden segelten. „Was zum Teufel...?“
„Freunde von dir?“, fragte Uschi.
Erst jetzt fielen Luis die kleineren Fallschirme auf, von denen die ersten bereits den Boden erreichten. „Mit Sicherheit nicht.“
„Vielleicht ein Fernsehteam?“
Luis hörte ihr gar nicht mehr zu. Seine Aufmerksamkeit wechselte zwischen den Fallschirmen und den Leuten aus seinem Team, die aufgeregt zusammenliefen. Nichts deutete darauf hin, dass die Koreaner mit der Ankunft einer Luftlandetruppe gerechnet hatten.
„Kommen Sie!“, brüllte Kim. Die gewohnte Leichtigkeit war aus seinem Gesicht gewichen. „Hier rüber, schnell!“
Luis spürte, wie die Angst seine Innereien packte und zusammenquetschte.
„Jetzt!“ Kim fuchtelte wild mit den Armen.
Luis sprang auf und stieß dabei den Laptop von der als Ersatztisch verwendeten Transportkiste.
Das Kamerabild drehte sich, hüpfte und zitterte, drehte sich erneut und zeigte letztlich ein Stück Zelt, eine Ecke des Eisblocks und ein paar Stiefel, die im Vordergrund vorbeiliefen. Unmittelbar danach brach die Verbindung zusammen.